Die Polen und der Pilgerbuchklau

Wenn man sich vor einem Gottesdienst ein Gesangbuch aus dem Regal nimmt, stellt man es anschließend wieder zurück. Bei den Pilgerbüchern funktionierte dies offenbar nicht. Auf Anfrage von 16vor räumte die Pressesprecherin der Heilig-Rock-Wallfahrt „einen gewissen Schwund“ ein. Allerdings ist sie sich sicher, dass oft „gar kein böser Wille“ dahintersteckt. Das behauptet in seiner letzten „Zweifler trifft Pilger“-Kolumne auch unser Stadtschreiber, der „aus Versehen“ ein solches Büchlein mitnahm. Ab nächster Woche wird es bei Frank Meyer über profanere Dinge als die Wallfahrt gehen.

TRIER. Obwohl ja seit einigen Jahren nicht mehr die Polen Papst sind sondern wir, haben sie mich vor schwerer Sünde bewahrt. Ich habe nämlich ein Pilgerbuch gestohlen. Aus Versehen, natürlich! Das schwöre ich bei allen Walkie-Talkie-Heiligen! Letzte Woche haben mich nämlich ein paar Wander-Pilgerinnen aus meinem Heimatdorf besucht (zwei davon sind mit dem Meier Kurt verschwägert). Sie bestanden darauf, dass ich sie zum „Kiedel“ begleite. Da ich Eindruck schinden wollte, machte ich bei der Gelegenheit auf Heilig-Rock-Experte. Nur so kann ich es mir erklären, dass ich mir vorne im Eingangsbereich des Doms ein Pilgerbuch schnappte – das hatte ich die zehn Mal, die ich vorher schon beim „Heiligen Rock“ war, noch nie getan – und mit erhobenem Zeigefinger darauf hinwies, die Bücher seien ausschließlich zum Mitsingen gedacht, solange man in der Warteschlange steht. Die Bücher müssten dann hinten am Ausgang wieder abgegeben werden. Nachdem ich mehr schlecht als recht „Ein Haus voll Glorie schauet“ (Pilgerbuch-Lied Nr. 129) mitgebrummt hatte, war das Thema Pilgerbuch für mich erledigt…

… bis ich draußen vorm Wallfahrtsladen merkte, dass ich das Ding immer noch in der Hand hielt. Ungläubig starrte ich auf den Aufkleber: „Eigentum des Bistums“. Die Pilgerfrauen verabschiedeten sich… und ich wollte schnurstracks in den Dom zurück, um meine Schandtat rückgängig zu machen. Aber aus dem Ausgang quollen Pilgermassen. Da wieder reindrängeln ging also nicht.

Ich hatte schon gehört, dass etliche Wallfahrer das Pilgerbuch, nun ja, als Souvenir behielten – obwohl man es auch für 4,95 Euro im Pilgerladen kaufen konnte. Vielleicht kennen Sie das: Auf kostenlose Souvenirs ist man irgendwie besonders stolz. Nein? Sie kennen das nicht? Glückwunsch: Sie gehören zu den wenigen Aufrechten! Jedenfalls war mir jetzt klar, auf welche Weise es „zu einem gewissen Schwund bei den Pilgerbüchern“ kam: aus purer Schusseligkeit. Aber war ich jetzt dennoch ein Dieb, ein schäbiger Pilgerbuchentwender? Das wollte ich mir nicht nachsagen lassen! Nachsagen lassen? Von wem eigentlich? Außer mir hatte doch keiner mitbekommen, dass ich „Eigentum des Bistums“ bei mir hatte. Okay, Gott hatte es natürlich mitbekommen. Der schon. Vielleicht war der gerade im Begriff, mich mit auf die lange Liste zu setzen, auf der stand: „Zehn Jahre Fegefeuer extra wegen Pilgerbuchdiebstahls“ (und konnte man die Extrafegefeuerjahre irgendwie mit den zwölf Mal, die ich beim „Heiligen Rock“ war, verrechnen?). Ich also schnell durch die Windstraße und wieder vor den Dom, und: Eine enorme Warteschlange! Gleichzeitig zog schon wieder ein Gewitter auf. Es grollte und zuckte am Himmel und ich hatte den Eindruck, dass die Blitze verdächtig genau in meine Richtung zielten. Na, der da oben wird doch nicht…? Doch nicht wegen eines Taschenbuchs für 4,95 Euro? Und nicht hier direkt vorm Dom, wo ein strafender Blitz, der auf mich Elenden herniederfuhr, auch unschuldige Pilger in Mitleidenschaft ziehen konnte? Obwohl: Was weiß ich schon über die Treffsicherheit Gottes? Und außerdem musste Gott doch mitbekommen haben, dass ich nicht vorsätzlich gehandelt habe.

Ich floh mitsamt dem unabsichtlichen Diebesgut vorm Gewitter in meine Wohnung. Und dort würde das Pilgerbuch heute noch liegen, wenn ich nicht noch diesen letzten offiziellen Termin gehabt hätte. Und hier kommen die Polen ins Spiel. Diese sehr nette Gruppe kam aus Hel und Puck (bei Danzig), den Partnerstädten von Hermeskeil und Konz, und war für eine ganze Woche auf Besuch. Da es nicht so einfach ist, in Hermeskeil ein lückenloses Wochenprogramm auf die Beine zu stellen, wurde ein Ausflug nach Trier und zum „Heiligen Rock“ anberaumt.

Ich hatte mich mit den Partnerpolen eigentlich nur zum Pilgertellertesten verabredet. Aber bevor ich losging, fiel mein Blick auf das Bistumseigentum in Buchform, das immer noch bei mir auf dem Küchentisch lag. Darin gelesen oder nochmal daraus gesungen hatte ich nicht. Das Exemplar war also praktisch noch neuwertig. Ich versteckte es in der Jackentasche und beschloss, das Diebesgut seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzubringen.

Über das Pilgertelleressen gibt’s nichts zu berichten, außer dass die Preise sündhaft überteuert waren. Aber ich dachte schon beim Essen sowieso nur an mein eigentliches Ziel: Noch einmal zum „Heiligen Rock“ gehen, um sich von diesem mit reiner Weste und Seele zu verabschieden.

Es ist schon sonderbar: Als ich das Pilgerbuch unwissentlich klaute, war ich völlig unbeschwert – aber jetzt, wo ich meinen Fehler wieder gutmachen wollte, war ich nervöser als vor einer Matheprüfung.

Auf dem Weg zum Schrein trug ich ein polnisches Fähnchen in der einen Hand, mit der anderen fühlte ich alle drei Sekunden nach dem Buch in Jackentasche. Als wir endlich beim Ausgang ankamen, zog ich mein Diebesgut heimlich raus und legte es mit zitternder Hand in den dafür vorgesehenen Kasten zurück.

„Was machst du denn da“, fragte mich der polnische Übersetzer, „schmuggelst du Bücher in den Dom?“ Das bekam natürlich auch der Helfer mit, der dort stand. Er betrachtete mich mit einem geduldigen aber nicht vorwurfsfreien „Ich helfe“-Blick. Gut, Gott hatte sich also gegen den Blitz entschieden, um diese Angelegenheit hier, im Dom, in Form einer Rundumläuterung zu regeln! Da der mitfühlende Blick des Helfers und der fragende des Übersetzers anhielten, brach es aus mir heraus und ich beichtete ihnen die ganze Geschichte.

„Um Gottes Willen“, erteilte mir der Helfer die Absolution, „die Mühe hättest du dir sparen können. Der Bischof hat die Parole ausgegeben: ‚Geben ist seliger als nehmen.‘ Wenn also ein paar Pilgerbücher als Erinnerungsstücke bei den Pilgern bleiben, ist dieser Schwund nicht beklagenswert.“ Und der polnische Übersetzer, der rasch einige seiner Landsleute hinzugerufen hatte, um ihnen zu erklären, was ich angestellt hatte, übersetzte mir folgende Rückmeldung aus der Gruppe: „Nicht mal ein Büchlein für 4,95 Euro könnt ihr Deutsche ordentlich klauen. Hoffentlich stellt ihr euch genauso stümperhaft bei der Fußballeuropameisterschaft an.“
Dann schleppten die Polen mich in den Wallfahrtsladen und kauften mir ein Pilgerbüchlein. Jetzt hab ich also doch ein schönes Heilig-Rock-Souvenir. Und es hat mich nicht mal was gekostet.

Sorry: sehr langer Text! Hier das Wichtigste in Kurzform: Irreführende Überschrift – ungeplanter Diebstahl – Kolumnist befürchtet, vom Blitz getroffen zu werden – Rundumläuterung – doch noch kostenloses Erinnerungsstück zur Heilig-Rock-Wallfahrt gekriegt.

Kolumne vom 08.05.2012: „Moses ruft Luther, Moses ruft Luther!„.
Kolumne vom 01.05.2012: “Spontanheilung durch Speed-Pilgern?
Kolumne vom 24.04.2012: “Nix los beim ‘Heiligen Rock’?
Kolumne vom 17.04.2012: “Eine Nummer zu groß?“.

Kolumne vom 10.04.2012: “Wallfahrst du noch oder pilgerst du schon?“.

Print Friendly, PDF & Email

von

Schreiben Sie einen Leserbrief

Angabe Ihres tatsächlichen Namens erforderlich, sonst wird der Beitrag nicht veröffentlicht!

Bitte beachten Sie unsere Kommentarrichtlinien!

Noch Zeichen.

Bitte erst die Rechenaufgabe lösen! * Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.