Spontanheilung durch Speed-Pilgern?

Solange die Wallfahrt noch läuft, steht Frank Meyers wöchentliche Kolumne unter dem Motto „Zweifler trifft Pilger“. Im vierten Teil der Reihe stellt der Stadtschreiber eine Dame vor, die seit 1933 an allen öffentlichen Präsentationen des „Heiligen Rockes“ teilgenommen hat. Außerdem erfahren wir von einem alten Freund Meyers, der ihn in Trier besuchte. Beide Personen haben gemein, dass sie nach ihrer ersten Begegnung mit der Reliquie von einer körperlichen Beeinträchtigung befreit waren.

Mit einem großen Stück Cremetorte habe ich „et Kättchi ous Ehrik“ (das Käthchen aus Ehrang) rumgekriegt. Tja, man muss mit solchen Frauen eben umgehen können. „Et Kättchi“ geht stramm auf die 90 zu und kommt, wie gesagt, aus Ehrang (und ist weder verwandt noch verschwägert mit dem Meier Kurt). Und sie ist eine Wallfahrerin mit Kultstatus, eine Pilgerveteranin, die schon viermal den „Heiligen Rock“ gesehen hat: 1933, 1959, 1996 und letzte Woche. Damit hat sie genauso oft aktiv an Heilig-Rock-Wallfahrten teilgenommen wie Lothar Matthäus an Fußballweltmeisterschaften. Aber das ist noch nicht alles: Damals vor 79 Jahren hat et Kättchi die Tunika Christi nicht nur gesehen – sie hat sie sogar anfassen dürfen! Wenn auch nur mit der Rückhand.

Mir war bisher noch gar nicht klar gewesen, dass manche zum „Heiligen Rock“ pilgern, um von einer Krankheit geheilt zu werden. Ich dachte immer, es ginge nur ums Seelenheil – ein bisschen Seele-Dehnen und Abstand gewinnen und so. Aber inzwischen habe ich einige Pilger getroffen, die entweder direkt um Heilung oder Linderung bitten oder, wenn beides nicht eintritt, um Kraft und Geduld (= Kraft zum Durchhalten und Geduld mit den Ärzten).

Et Kättchi war damals gar nicht gut dran, 1933. Sie litt an einer langwierigen, gefährlichen Erkrankung. Deshalb fuhr ihre Mutter mit ihr zum „Heiligen Rock“ – zwar nicht mit vollster Zuversicht, dadurch gleich die Heilung herbeizuführen, aber mit der Gewissheit, es könne ja keinesfalls schaden. Zur eigenen Überraschung durfte et Kättchi dann beim Reliquienschrein die Hand durch eine ovale Seitenöffnung stecken und den Rock berühren. Das durften nämlich alle Kinder, die mit einer Krankheit zur Tunika kamen. Geführt wurde die Hand von einem Priester, der neben dem senkrecht hängenden Rock stand. Der Geistliche achtete darauf, dass niemand am Rockzipfel zupfte. Deshalb durfte man den Saum auch nicht mit den Fingerkuppen berühren, sondern lediglich mit der Rückseite der Finger. An viel kann sich et Kättchi nicht mehr erinnern, aber noch sehr genau daran, wie sich das damals anfühlte (wie normaler Stoff eben) – und daran, wie enttäuscht sie war, dass sie danach, als sie im Dom fertig waren, keinen Kuchen bekam.

Letzen Montag habe ich selbst einen recht beachtlichen Fall von Spontanheilung erlebt: Ein alter Freund von mir kam zu Besuch, und weil er ein Ungläubiger ist, der hauptsächlich wegen des Rieslings nach Trier kommt, wollte er zuerst nicht zum „Heiligen Rock“. Nun begab es sich aber, dass besagter Kumpel es gerade mächtig im Kreuz hatte und kaum in der Lage war, aufrecht zu laufen. Mit dem Argument, er passe doch prima in den Dom, wenn er sowieso rumhinke wie Quasimodo, lockte ich ihn dann doch zum Gewand Christi. Wobei ich zugeben muss, dass er sich vor allem deshalb leicht zu einer Rockbesichtigung überreden ließ, weil die Warteschlange am Montagmittag gerade äußerst kurz war und er „höchstens mal ganz kurz wallfahrten wollte“. Speed-Pilgern, sozusagen.

Und siehe da: Wir kamen hinten links am Dom wieder raus, und der eben noch Humpelnde schritt völlig unbeschwert forsch drauflos, als ich ihm vorschlug: „So, das hätten wir also erledigt, und jetzt gehen wir zum Kesselstatt ein paar Rieslingweine probieren.“ Mein Kumpel erwies sich als stur, und wollte nicht einmal hypothetisch anerkennen, die spontane Besserung könnte von der Begegnung mit dem „Heiligen Rock“ herrühren. Störrisch beharrte er darauf, es ginge ihm jedes Mal gleich besser, wenn’s ans Weintrinken ginge.

Damit das klar ist: Ich käme keine Sekunde auf die Idee, mich über Pilger, die beim „Heiligen Rock“ Heilung suchen, lustig zu machen – schon gar nicht über et Kättchi. Wer einmal mit ihr Cremekuchen im Café Razen gegessen hat, könnte das nie. Aber natürlich wollte ich bemitleidenswerter Zweifler wissen, wie das damals ’33 denn weiter gegangen sei?

Zunächst begleitete ich sie noch in den Wallfahrtsladen. Dort beichtete Kättchi, dass sie sich – nach dem Standard der 30er Jahre – beinahe der Völlerei schuldig gemacht hätte. Denn sie dachte natürlich, es gäbe noch ein Stück Kuchen, wo man doch schon mal in Trier sei. „Kuchen? An einem ganz normalen Wochentag! Gekauften Kuchen! Käthchen, was denkst du eigentlich?!“, soll ihre Mutter ausgerufen haben.“

„Das mit dem Kuchen können wir jetzt ja nachholen!“, schlug ich schlau vor, und et Kättchi meinte verschmitzt: „Aber dann ein richtig großes Stück Cremetorte bitte, wo ich schon 79 Jahre lang darauf warten musste.“

Als die 1933-Gedächtnistorte-mit-Cremezinsen verputzt war, erzählte et Kättchi nachdenklich, dass das Berühren des Rocks wohl nicht ursächlich dafür gewesen sei, dass sie die Krankheit damals ein paar Wochen später überstanden hatte. Das lag wohl eher daran, dass bald darauf ein Arzt gefunden wurde, der um die richtige Behandlungsmethode wusste. Aber zum „Heiligen Rock“ sei sie dennoch in jeder Lebensphase gerne gepilgert – zum Auffrischen sozusagen, wie bei der Tetanusimpfung, wobei man zu der ja genau alle zehn Jahre hin muss und bei der Heilig-Rock-Wallfahrt 16 bis 37 Jahre Abstand dazwischen sind.

Jedenfalls freute sie sich aufrichtig darüber, noch erleben zu dürfen „dass die diesmal einen richtig schönen Reliquienschrein hingekriegt haben“, die „anderen Dinger“ hätten ihr nicht so gefallen – an dem 33er sei die Öffnung zum Durchgreifen das einzig Schöne gewesen. Aber der 2012er-Schrein sei wunderbar einfach und bescheiden und lasse einen sehr nah an den „Heiligen Rock“ ran – auch ohne ihn zu berühren. Sie käme im Mai wohl nochmal und ich dürfe sie dann gerne wieder begleiten. Aufgrund des kessen Lächelns, mit dem sie das sagte, vermute ich, dass sie noch ein Stück Cremetorte aus mir rausschlagen will.

Lesen Sie hier den dritten Teil: „Nix los beim ‚Heiligen Rock‘?

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