Eine Nummer zu groß?
Anlässlich der Heilig-Rock-Wallfahrt steht auch der zweite Teil der Stadtschreiber-Kolumne auf 16vor unter dem Motto „Zweifler trifft Pilger“. Nachdem der Reliquienlaie Frank Meyer vergangene Woche des begehrten Gewandes ansichtig geworden war, umtrieb ihn die Frage nach der Kleidergröße des angeblich ehemaligen Besitzers. Die Antworten derer, die er mit seiner Schlussfolgerung konfrontierte, fielen sehr unterschiedlich aus.
TRIER. Hoffentlich missversteht die folgende Frage niemand als Blasphemie, aber: Kann es sein, dass Jesus seinerzeit ganz schön moppelig war? Jedenfalls hätte in diese Tunika auch jemand reingepasst, der ordentlich was auf die Waage brachte.
Mir war schon aufgefallen, dass nicht nur der Meier Kurt, sondern auch einige andere erfahrene Wallfahrer des 20. Jahrhunderts verdächtig rumdrucksten, als ich fragte, ob die Tunika Christi denn nun so ausgesehen habe, wie sie sich das vorgestellt hatten. Habe sie nicht, kam bei genauerem Nachbohren heraus. Irgendwie habe man sich das Gewand Jesu anders vorgestellt… länger vielleicht… vor allem aber schmaler, irgendwie.
Ich also am Freitagnachmittag gleich zum „Heiligen Rock“! Obwohl ich ein hoffnungsloser Amateur-Wallfahrer bin, war ich richtig aufgeregt. Und nach nur 35 Minuten Wartezeit stand ich vor der Reliquie. Für einen Augenblick vergaß ich völlig meine Mission, nämlich die Konfektionsgröße des „Heiligen Rocks“ zu recherchieren, und ich konnte nichts dagegen tun, mich ergriffen zu fühlen. Vielleicht ist das Gefühl, ergriffen zu sein, ansteckend, denn allen, die mit mir um den schlichten, schönen Schrein standen, schien es genauso zu gehen. Mich beschlich sogar der Eindruck, ich sei ‚angekommen‘. Aber wieso angekommen? Ich hatte nie den ausdrücklichen Wunsch gehabt, zum „Heiligen Rock“ zu gehen. Dass ich nun doch davor stand, war eher eine Kombination aus Zufall und Neugier. Also besann ich mich meiner eigentlichen Aufgabe und warf einen genaueren Blick auf die Ausmaße der Tunika.
Oha! Die war tatsächlich recht ausladend. Breiter jedenfalls, als man sich Jesus normalerweise vorstellt, denn bei Jesus denkt man ja an einen Mann mit langem Haar und Bart, vor allem aber an einen großen, schlanken Typ – mit viel Charisma. Aber könnte nicht auch jemand Charisma haben, der eher klein und stämmig ist? Sind die Körpermaße von Jesus eigentlich biblisch belegt?
Ich konnte mich ja schlecht mit dem Meterband quer über den Schrein legen, um nachzumessen, aber ich schätze, der Rock bringt es im Hüftbereich locker auf über einen Meter Breite. Das würde zwar noch nicht ganz dem Rainer Calmund passen, aber bei mir und dem Meier Kurt zum Beispiel – und wir sind beide alles andere als Größe-L-Träger – würde dieses Gewand großzügig um den Waschbärbauch flattern.
Okay, man kennt das ja: Stoffe hängen sich über die Jahre ziemlich aus und werden etwas labbrig, aber das macht doch wohl höchstens eine halbe Kleidergröße aus, oder? Andererseits gibt es ja kaum Vergleichsmöglichkeiten, was die 2000-jährige Aufbewahrung von Gewändern betrifft.
Vielleicht hat Maria die Tunika ja extra eine Nummer breiter gestrickt oder gewebt oder was weiß ich, weil sie meinte: „Da wächst der Bub noch rein!“ Damals musste man nämlich langfristig planen und konnte die Klamotten nicht eng anliegend nähen – da gab’s noch keinen Schlussverkauf, wo man sich regelmäßig preisgünstig neu einkleiden konnte. Da musste so eine Tunika schon mal ein oder zwei Jahrzehnte halten. Vielleicht war Jesus aber auch doch schlank. Nur: Eng anliegend war damals einfach nicht in Mode, sondern es war „wallend“ angesagt. (Ha! Da haben wir ja wieder das Wallen!)
Aber wieso suche ich eigentlich nach Entschuldigungen für Jesus? Was wäre denn, wenn er nun wirklich etwas fülliger gewesen wäre? Obwohl: Viel gegessen hat der ja nicht. Im Gegenteil, eher dauernd gefastet. Und wenn man zum Beispiel die Aktion mit den zwei Fischen und fünf Broten bedenkt… die brauchten ja nicht viel, damals.
Zum Glück habe ich einen studierten Theologen fragen können: „Hatte Jesus eventuell Übergewicht?“ Er dachte erst, ich mache Spaß, aber als ich auf die Breite der Tunika hinwies, wurde er ganz ernst und meinte, ihm gefalle die Vorstellung, Jesus habe kein Idealgewicht gehabt und würde – auch figurmäßig – nicht in unsere heutigen Mode- und Marketingschablonen passen. Meine Theorie, dass Maria prinzipiell eine Nummer zu groß häkelte, fand er unplausibel. Der gebildete Mann freundete sich eher mit der Vorstellung an, dass die Tunika nicht nur in einem durchgewebt sei, sondern auch so ausladend, dass gleich mehrere Gläubige gleichzeitig reinpassten. Damit sei das Umfassende der Kirche wunderbar versinnbildlicht. Freundlich lächelnd verriet er mir sogar: „Ich fände es spannend, wenn Jesus in unserer heutigen Zeit wieder in Menschengestalt zu uns käme… und er – für jede Kamera und jeden Fotoapparat eindeutig sichtbar – nicht die Körpermaße eines Models hätte. Und vielleicht hat Jesus in den letzten 2000 Jahren ja auch noch weiter Gewicht angesetzt.“
Ich glaube, er meinte das irgendwie witzig, aber wenn man das ernst nähme, könnte man dem Erlöser immerhin sagen: „Hör mal, Jesus, deine Tunika liegt noch in Trier bei Bischofs, in der prunkvollen Kommode gleich hinterm Altar, da kannst du sie dir abholen… passt jetzt bestimmt wie angegossen!“
Nachtrag
Kurzversion für alle, die keine langen Texte mögen: Beim Heiligen Rock gewesen. Ergriffenheit gespürt. Dann bemerkt: Oha, der ist aber breit! War Jesus etwa moppelig?
von Frank Meyer