„Moses ruft Luther, Moses ruft Luther!“
Für seine fünfte und vorletzte kolumneninterne Reihe „Zweifler trifft Pilger“ belauschte unser aufgeschlossener Stadtschreiber den Funkverkehr zwischen Wallfahrtshelfern. Weil man das nicht tut, hat der Allerwerteste, pardon, der Allmächtige ihn kurzzeitig mit wahnwitzigen Phantasien gestraft. Welch wirre Vorstellungen Frank Meyer so durch den Kopf gingen, lesen Sie in den folgenden Zeilen. Hoffen wir, dass er jetzt keine Stimmen mehr hört.
TRIER. Also ich würde ja einen Heiligen nicht mal erkennen, wenn er mir vorm Dom über die Füße läuft. Und die ganzen Bibeltypen kann ich auch nicht auseinanderhalten. Deshalb hatte es bei mir zunächst nicht geklingelt, als ich das nostalgische Rauschen der Funkgeräte hörte, aus denen Meldungen kamen wie: „Jakob 4 ruft Helena 1, Helena 1, bitte melden! Das Ende des offenen Singens verzögert sich, die Pilgergruppe kommt noch nicht raus!“ Solche Funksprüche kann man nämlich erleben, vor der Liebfrauenkirche oder in der Weberbachstraße oder beim Schaff-Rock vor der Basilika…
Bei „Lukas 2 an Markus 5, bitte melden!“ glaubte ich, naiv wie ich bin, dass es mindestens zwei Helfer gibt, die Lukas heißen und mindestens fünf Markusse. Auf Evangelisten wäre ich im Leben nicht gekommen. Eine Freundin erklärte mir, dass jede Helferstation, die mit einem Walkie-Talkie ausgestattet ist, den Namen einer Bibelgestalt oder eines Heiligen hat.
Kennen Sie eigentlich den Begriff „Walkie-Talkie“ noch? Tja, Pech, dann sind Sie mindestens fast 50. So hießen die Funkgeräte, als es noch keine Handys gab… aber das ist jetzt unwichtig. Seit ich weiß, dass jedem Knacken und Rauschen eines Funkgerätes das laute Ausrufen eines biblischen Namens folgt, achte ich in dem Menschenmengengebrummel nur noch darauf, welchen Heiligen ich als nächstes höre. Neben der Heiligen Helena habe ich schon die vier Evangelisten, eine Judith, zwei Jakobs und eine Esther gesammelt. Das Problem ist nur: Wenn ich jetzt ein Walkie-Talkie auch nur von weitem sehe oder höre, geht gleich die Phantasie mit mir durch. Vor allem seitdem ich herausgefunden habe, dass „Helena 1“ die Zentrale ist – was übrigens einleuchtet, denn immerhin hat sie ja die Tunika nach Trier geholt.
Jetzt frage ich mich – völlig unsinnigerweise –, ob bestimmte Namen ganz gezielt gewählt wurden – und wie weit man so etwas treiben könnte. Müsste man sich zum Beispiel Sorgen machen, wenn man irgendwo mithörte: „Helena 1 an Hiob 3! Hiob 3, kommen Sie bitte mal in die Zentrale, ich hab da eine Nachricht für Sie!“ Oder noch schlimmer: „Salome an Johannes den Täufer, Johannes T bitte bei Helena 1 melden, es geht um Ihren Arbeitsvertrag!“ Und dürfte man seufzend hoffen, dass zarte Liebesbande sich knüpften, wenn ein adretter junger Mann in sein Walkie-Talkie säuselte: „Hohelied 1 an Hohelied 2 – treffen wir uns nachher hinterm Helferzelt?“ – vor allem dann, wenn die Angefunkte nur wenige Meter entfernt von ihm steht und vielsagend in ihr Walkie-Talkie lächelt und dann kurz zu Hohelied 1 rüberschaut, um ihm kaum merklich zuzunicken?
Oder noch besser: Vielleicht hat ja die „Polizeistation Heiliger Rock“ in der Palaststraße eine Aufnahmestelle für Randalierer oder sonstige Aufmüpfige – dort könnten dann von der Heilig-Rock-Streife Funksprüche eingehen wie: „Moses 2,20 an Luther 1, hier Moses 2,20 … Luther 1 bitte melden, hier macht wieder einer Randale.“
Aber das ist Unsinn! Denn natürlich kommt Luther gar nicht selber in der Bibel vor, und außerdem randalieren Pilger nicht. Wirklich! Nie! Ich hab in meinem ganzen Leben noch keine friedlicheren Massenbegegnungen erlebt (und das, obwohl ich als Jugendlicher auf Barclay James Harvest-Konzerten war!). Und kein Gesetzeshüter würde es je wagen, sich „Moses 2“ zu nennen. Ich sag doch: Die Phantasie geht mit mir durch.
Luther war übrigens ein schlechter Verlierer. Er hat damals über den „Heiligen Rock“ als „Beschiss von Trier“ doch nur gestänkert, weil er früh erkannte, welches werbetechnische Eigentor er sich da geschossen hat – mit der Verdammung der Reliquienverehrung. Natürlich kann man auch einfach so, ohne Heiligengebissreste oder Kreuzigungsholzsplitter, einen brauchbaren Kirchentag veranstalten. Aber mit einer ordentlichen Reliquie im Rücken hat man marketingmäßig einen viel prägnanteren Anziehungspunkt. Der Backes Hermann hätte doch nie im Leben die gurrende Spanierin kennengelernt (die ihm heute noch mailt!), wenn es die Warteschlange vorm „Heiligen Rock“ nicht gegeben hätte. Tja, das hätte sich der Luther Martin nicht träumen lassen, dass diese Werbestrategie auch 500 Jahre später noch trägt, während er selbst dann nur noch als Stationsname für die Randaliererzelle herhalten… tschuldigung, die Phantasie wieder…
„Helena 1 an Kolumnist, Helena 1 an Kolumnist: Ich schlage vor, Sie begeben sich jetzt ins Abendlob zum Vokalensemble St. Johann! Russisch-orthodoxer Chorgesang. Das beruhigt! Und berichten Sie künftig lieber wieder darüber, was der Meier Kurt und andere Wallfahrer Ihnen so erzählen!“ Recht hat sie, die Zentrale! Danke, Helena 1!
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von Frank Meyer