Zum Public Viewing gehen oder Fußball gucken?

Warum tut man sich das an? In der Öffentlichkeit auf Bildschirmen oder Leinwänden mit vielen Unbekannten gemeinsam Fußball schauen, die sich nur alle zwei Jahre für diese Sportart interessieren? Sich von Herren umarmen lassen, die ein AXE-Fan-Trikot tragen, aber nicht das dazugehörige Deodorant an ihre Haut ließen? Sich Gespräche von mit Karnevalsschminke angemalten Damen anhören, die die Qualität der Spieler nach deren Aussehen beurteilen? Frank Meyer ist diesen und ähnlichen Fragen in seiner folgenden Kolumne nachgegangen.

TRIER. „Ooooch, ist der Robin van Persie süüüß!“ Nein, van Persie ist nicht süß. Der ist Holländer, also gehört er zu „den Bösen“. Moment! Nicht alle Holländer sind böse… nur immer genau die elf, die gegen „uns“ spielen. Wenigstens ein bisschen Feindbild darf man sich doch wohl gönnen. Wenn ich Fußball gucke, will ich nicht hören, welcher Spieler süüüß ist (was ist das überhaupt für eine sonderbare Kategorie? Will ein Spieler überhaupt süüüß sein?). Aber wenn man zum Public Viewing geht, muss man sich solche Sprüche eben anhören, wie, dass die orangen Trikots viel besser aussähen als unsere langweiligen schwarz-weißen. Solche Äußerlichkeiten interessieren mich nicht, wenn ich Fußball gucke, sondern ich will mich einfach nur – aufregen! (das hat beim Holland-Spiel dann ja einigermaßen funktioniert).

Was soll am Public Viewing überhaupt Spaß machen? Nicht nur, dass zuhause der Weg zum Kühlschrank kürzer ist! Bei unserem eingespielten Dreierteam (Meier Kurt, Backes Herrmann, ich) ist klar, wer der Experte ist: nämlich ich. Bei den Beiden macht es mir nichts aus, dass ich der einzige Experte bin und die beiden keine Ahnung vom Fußball haben, denn sie bringen freiwillig einen Sixpack und ’ne Tüte Chips mit und leiden während des Spiels genauso aufrichtig wie ich.

Aber bei dieser Fußball-EM ist alles anders. Ich habe keinen Fernseher in meiner Trierer Wohnung, also MUSS ich diesmal public viewen (sprich: papplik fjuhen) gehen. Wie heißt denn dazu nun wieder die Vergangenheit: Ich fjuhte papplik oder ich papplik fjuhte? Es hält sich übrigens hartnäckig das Gerücht, dass in englischsprachigen Ländern „papplik fjuhen“ nicht nur bedeutet, dass man im Rudel feiert, während auf einer Großleinwand Fußball läuft. „Public Viewing“ kann (ich betone „kann“ – das kommt auf den Kontext an) sich auch auf eine Leichenschau, also das öffentliche Aufbahren eines Toten, beziehen. Nun ja, das passt dann ja doch auch irgendwie zum Abschneiden der Holl…, aber lassen wir das).

Was mich überrascht, ist, dass sich beim Papplik Fjuhen Fans anderer Nationen mitten unter uns deutsche Fans trauen. Mitten in der Kneipe oder auf freien Plätzen im Oranjes-Trikot! Haben die gar keine Angst vor uns? Also ich würde mich als Holländer nicht zum Meier Kurt, Backes Herrmann und mir ins Wohnzimmer trauen, wenn wir gerade Fußball gucken (na gut, außer vielleicht, wenn der Holländer einen Sixpack und Chips mitbringt, dann kann er sich dazusetzen, sich mit aufregen und sich ansonsten was anhören).

Noch mehr wundert mich, dass man beim Papplik Fjuhing wildfremden Leuten um den Hals fällt. So was mag ich nicht. Wenn ich Fußball gucke, will ich ein unsoziales Wesen sein dürfen. Nun ja, vielleicht würde ich anders darüber denken, wenn mir beim Holland-Spiel bei den Gomez-Toren wenigstens die rothaarige Fjuherin links neben mir – die mit den sympathischen Lachgrübchen und dem „Ist der van Persie süüüß“ – um den Hals gefallen wäre; aber nein: der rechts neben mir stehende, recht streng riechende Hüne im Deutschland-Trikot hat mich „Tooor“-schreiend umarmt. Auf seinem T-Shirt stand „Ballack“ drauf und ich vermute, dass er aus okkultisch-taktischen Gründen dieses Shirt seit der Sommermärchen-WM 2006 nicht mehr gewaschen hat, weil „wir“ immer mindestens Zweiter oder Dritter werden, solange er dieses Trikot trägt. Aber vielleicht werden wir Europameister, wenn er mal das Leibchen wechselt! Ich hab unsere Jungs vorm Fernseher jetzt bereits durch zehn EM- und neun WM-Turniere und zu fünf Titeln begleitet – auch ohne überteuertes Fan-Shirt.

Papplik fjuhen kann man in Trier fast überall. Auf Stockplatz und Kornmarkt kann man praktisch nirgendwo sitzen, ohne einen Bildschirm im Blickfeld zu haben. Wesentlich stylischer fjuht man allerdings auf der Skye-Lounge; die verteilen da sogar Kuscheldecken, wenn’s ab der zweiten Halbzeit etwas schattiger wird; oder in besonders großem Rudel auf dem Viehmarktplatz oder besonders heimelig in der Kellerkneipe vom Haus Fetzenreich (mein persönlicher Favorit!) – um mal nur ein paar „locations“ zu nennen.

Aber überall dort wird der Fußball nicht so richtig ernst genommen: Man ärgert sich allenfalls verhalten und kurzfristig, wenn Schweini und Co. mal Mist spielen, und vor allem freut man sich dort mit viel zu wenig Häme, wenn Robben und Bommel geschlagen am Spielfeldrand sitzen. Man muss sich also entscheiden: Will man zum Papplik Fjuhing gehen oder will man Fußball gucken? Das sind zwei grundverschiedene Abendveranstaltungen. Apropos Abendveranstaltungen: Geht überhaupt jemand während der Deutschland-Spiele irgendwo anders hin, als zum Papplik Fjuhing? Die Antwort ist tatsächlich: Ja!

Aus ganz sicherer Quelle weiß ich zum Beispiel, dass während die Deutschen das Viertelfinale gegen Dänemark klar machten, gleichzeitig im Theater die „Sommernachtstraum“-Premiere hervorragend besucht war. Und das, obwohl ober- oder unterhalb der Bühne KEIN Live-Ticker mitläuft oder im Foyer der Fernseher; nicht mal eine Radio-Live-Konferenz auf dem Männerklo gibt es. Man kann da nur das Stück anschauen, bei dem man doch sowieso weiß, wie es ausgeht (nämlich 3:0 für die Frauen; 1:0 Hippolyta, 2:0 Hermia, 3:0 Helena). Wie hält man das im Theater bloß aus, wenn man weiß, das gleichzeitig wenige hundert Meter Prinz Poldi im dänischen Strafraum den Ball auf den Fuß kriegt (Rein oder nicht rein? Das ist hier die Frage). Nach dem Stück muss man(n) dann schnell zum Viehmarktplatz rennen, um nachzusehen, ob sich hunderte von Viewern in der Phase des Frust- oder Jubel-Trinkens befinden.

Aber ich rege mich völlig ohne innere Einsicht auf! Zum Viertelfinale fjuhe ich dann doch wieder papplik, höre mir an, welcher Spieler süüüß ist, und beim Jubelumarmen klopfe ich aufmunternd oder tröstend auf den Rücken eines schweißdurchtränkten Trikots, auf dem Klose oder Schweinsteiger steht.

Kolumne vom 12. Juni: „Für den Orgasmus zwischendurch

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