Originell wie ein Kunstdruck

Wegen des österlichen Tanzverbots war Trier am Ostersamstag offiziell tanzfreie Zone. Die einzige amtlich genehmigte Ausnahme war die Bühne des Trierer Theaters. Hier brachte Choreograph Sven Grützmacher eine tänzerische Annäherung an Leben und Werk von Marc Chagall auf die Bühne. Die Poesie, die berühmte Chagall’sche, zeigte sich dabei weniger in der Choreographie als in der virtuosen musikalischen Begleitung.

TRIER. Die Herausforderung, ein ganzes Leben zu inszenieren, mag manchen Choreographen verzweifeln lassen. Umfasst dieses Leben dann auch noch weite Teile des 20. Jahrhunderts, mehrere Kontinente und ein fast nicht zu überblickendes künstlerisches Vermächtnis, wird die Herausforderung schnell zur undankbaren Sisyphos-Aufgabe.

Insofern präsentiert sich Marc Chagall als harte Nuss für die künstlerische Aufarbeitung: Ende des 19. Jahrhundert in Russland als Sohn jüdischer Arbeiter geboren, führt sein künstlerischer Weg über Europa nach Amerika und wieder zurück nach Südfrankreich, wo sein Leben 1985 endet. Ein verschlungenes Leben, an dem sich die großen Dramen des Jahrhunderts abspielen, persönlich wie politisch: Er lernt den Kommunismus schätzen und hassen, findet und verliert die Liebe und durchläuft alle Stationen der künstlerischen Rezeption, von der Verbrennung seiner als „entartet“ eingestuften Bilder im Nationalsozialismus bis hin zur Würdigung durch die bedeutendsten Museen der Welt.

Inszeniert man nun einen Abend wie „Marc Chagall – La Vie“ bieten sich zwei Möglichkeiten: Station für Station das Leben nacherzählen oder Biographie und Werk zu einer ästhetischen Essenz destillieren. Es spricht viel dafür, dass unter Sven Grützmacher versucht wurde, einen dritten Weg einzuschlagen, der sich zwischen den beiden Polen bewegt. Vor einer klassisch chronologischen Erzählweise versucht der Abend, die Poesie der Bilder einzufangen, ohne der Versuchung einer allzu einfachen Bebilderung in die Falle zu gehen.

Die Zuspiele der beteiligten Künstler, die man sich für die Inszenierung ins Boot geholt hat, bieten die besten Bedingungen für das Gelingen eines solche ehrgeizigen Vorhabens: Das Klezmer-Trio um Klarinettist Helmut Eisel (Klavier: Sebastian Voltz, Bass: Stephan Engelmann) liefert eine musikalische Grundlinie, die nicht nur klangliches Beiwerk, sondern gleichberechtigter Akteur der Inszenierung ist. Der ukrainische Künstler Slava Prischedko vereint in seinem Bühnenbild subtil Chagall’sche Schlüsselreize.

Inspiriert ist der Abend von dem Gemälde „La Vie“, ein Potpourri von Chagalls stilbildender Bildsprache. Seine Bilder sind bevölkert von phantastischen Gestalten und Landschaften, die wie alte Bekannte immer wieder auftauchen: Der grüne Geiger, die Braut, der rote Ziegenbock, das ländliche Idyll seiner russischen Heimat. Sein Vermögen, in Bildern zu dichten, ist vielleicht das herausragendste Alleinstellungsmerkmal Chagalls als Künstler des 20. Jahrhunderts. Gleichzeitig ist es der Grund, warum eine Bearbeitung als Tanztheater sich mehr als jede andere Form anbietet: Tanz kann da weitermachen, wo Sprache keine Worte mehr findet.

Bedauerlich an Grützmachers Inszenierung ist, dass man dem Tanz als Ausdrucksform dieses Vermögen nur bedingt zuzutrauen scheint: Zwischen Kostümen, Effekten und großen Gesten verliert die Bewegung als Ausdruck ihre Funktion, wird stellenweise zur bloßen Dekoration. Die Spielthemen verraten über weite Strecken wenig über die Auseinandersetzung mit Chagall, aber viel über die Austauschbarkeit von Choreographie. Die Figur Marc Chagall (René Klötzer, dessen tänzerische Leistung davon unberührt beeindruckend bleibt) bleibt seltsam unverbindlich gezeichnet, als hätten die guten Einfälle sich hier in Grenzen gehalten: Als träumerisch-tänzelnder Luftikus, hin- und hergerissen zwischen Inspiration und Realität, scheint Chagall von Anfang bis Ende als staunender Beobachter durch das Leben zu stolpern.

Größeres Manko ist aber, dass die Inszenierung sich zu keinem Zeitpunkt von der tradierten Erzählform der konkreten Chronologie löst. Immer vorwärts prescht das Stück, baut neue Bilder und Effekte auf und hakt letzten Endes doch nur ab. Die stärksten Augenblicke hat die Inszenierung, wenn sie stillsteht und für einen kurzen Moment den Atem anhält. Dann offenbaren sich auch die schönen Ideen: Als der Geldsegen (als wahrer Geldregen) zu spät kommt, als das Herz der geliebten Bella nicht mehr schlägt. Als die bunten Plastikmädchen ihre Schirme aufspannen und die Welt ungerührt ihren Lauf nimmt, während einer alleine zurückbleibt.

Die tänzerische Annäherung an Marc Chagall bleibt hinter den Möglichkeiten zurück, die durchaus angelegt sind. Eine neue, wenigstens eine dezidiert eigene Perspektive auf Künstler, bleibt sie dem Zuschauer schuldig. Der Kompromiss zwischen ästhetischer Ambition und publikumswirksamer Gefälligkeit – er geht auch hier zu Lasten der künstlerischen Integrität. Ergebnis ist ein Abend, der so viel Aura entfaltet wie der Chagall-Kunstdruck im Wartezimmer eines Zahnarztes: Hübsch anzusehen, aber auch nicht mehr.

Aufführungen im April: Dienstag, 10. April, 20 Uhr; Freitag, 13. April, 20 Uhr; Samstag, 21. April, 19.30 Uhr.

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