„Für mich war der Mensch interessant“

Das Theater Trier zeigt am Samstag die Uraufführung von „Marc Chagall – La Vie“. Es ist nicht das erste Mal, dass der Regisseur und Choreograph Sven Grützmacher sich mit Biografien oder religiösen Themen beschäftigt. Der gebürtige Ost-Berliner, der an der staatlichen Ballettschule seinen Abschluss machte, ist seit 2005 in Trier und hat hier unter anderem „Judas – bin ich’s?“ und „Joseph Süß“ inszeniert. 16vor sprach mit Grützmacher über die „christlich-jüdische Kultur“ und über das Leben eines außergewöhnlichen Künstlers.

16vor: Ostdeutsche sind ja meistens nicht religiös geprägt. Dennoch legen Sie bei Ihren Inszenierungen – wie „Passion“, in der es um Jesus heute geht, oder nun bei Marc Chagall – immer wieder den Schwerpunkt auf religiöse Aspekte.

Sven Grützmacher: Warum ich das mache, hat nichts damit zu tun, ob ich eine Konfession habe oder nicht. Ich glaube, es ist thematisch interessant und wichtig, dass man sich mit solchen Dingen beschäftigt. Religion ist Bestandteil unserer Gesellschaft. Unsere Kultur ist christlich geprägt, insofern sind Kultur und Religion nicht wirklich zu trennen. Ob man die Religion aktiv betreibt oder nicht, ist dabei nicht relevant. Viele Dinge sind damit durchdrungen, durch Tausende von Jahren Religion.

16vor: Weshalb ich nach der Religion frage: In der Beschreibung des Tanzstücks steht: „Vor dem Hintergrund der Beschäftigung mit dem christlich-jüdischen Maler Marc Chagall wird die Produktion auch im Rahmen der Heilig-Rock-Tage 2012 gezeigt.“ Marc Chagall war aber eindeutig Jude.

Grützmacher: Das ist schon richtig. Chagalls Tradition hat ganz klar jüdische Wurzeln. Er hat aber relativ zeitig für sich festgemacht, dass er keine aktive Religion ausüben wird.

16vor: Es gibt ja viele säkulare Juden.

Grützmacher: Genau. Chagall hat immer zu seiner jüdischen Herkunft gestanden. Aber er hat sich, wie man aufgrund seiner Arbeiten in Metz, im Mainzer Dom und in Saarburg weiß, eindeutig mit der Bibel beschäftigt, nicht nur mit dem Alten Testament, sondern auch mit dem Neuen Testament. Und insofern kann man schon „christlich-jüdisch“ sagen.

16vor: War denn die Verbindung zur Heilig Rock-Veranstaltung von Beginn an geplant oder hat es sich so ergeben?

Grützmacher: Ich glaube, das hat sich ergeben, war also nicht vordergründig geplant. Seit längerem besteht aber eine sehr gute Zusammenarbeit mit der Katholischen Akademie…

16vor: …die es ja bald nicht mehr gibt.

Grützmacher: Bald gibt es die leider nicht mehr. Aber wir haben bereits im Rahmen der Oper „Cusanus“ mit der Akademie zusammengearbeitet. Am Aschermittwoch der Künstler hatten wir beispielsweise im Rahmen der Heilig-Rock-Tage eine Podiumsdiskussion über „Passion“ und damit hat es sich eigentlich organisch ergeben.

16vor: Jetzt möchte ich gerne zum Stück kommen. Es gibt ja sehr viele verschiedene Figuren in Ihrer Inszenierung. Wie haben Sie das Leben von Chagall in ein Tanzstück verwandelt?

Grützmacher: Dazu muss ich zwei, drei Dinge sagen. Erst einmal wäre es vermessen, wenn ich sagen würde: „Ich vertanze ein ganzes Leben von einem Menschen“. Das geht sowieso nicht. Ich habe für mich die wichtigsten Stationen aus seiner Biografie herausgearbeitet. Beispielsweise seine Kindheit, sein Verhältnis zur Mutter und zum Vater, die doch sehr unterschiedlich geprägt waren. Dann natürlich zu seiner großen Liebe Bella, seiner Frau. Und es gibt Figuren, die immer wieder in seinem Werk vorkommen. Das ist der Grüne Geiger, der Harlekin, der Rote Ziegenbock – diese Figuren habe ich auch in das Stück eingearbeitet, sie stehen als Metapher für Chagalls Poesie. Für mich hätte es überhaupt nicht funktioniert, wenn ich begonnen hätte, seine Bilder zu vertanzen. Das wäre aus meiner Sicht ja ein totaler Quatsch. Seine Bilder und seine Fenster kann man sich anschauen, das war für mich überhaupt nicht interessant. Für mich war der Mensch interessant: Was steckt denn eigentlich in diesem Mann, der ein ganzes Jahrhundert erlebt hat? Er hat eine Revolution, zwei Weltkriege erlebt, eigene Verfolgung – da ist wahnsinnig viel Substanz.

16vor: Chagall ist ja unglaublich viel in der Welt herumgekommen…

Grützmacher: Ja, er wurde in Witebsk geboren, im heutigen Weißrussland. In jungen Jahren ist er nach Paris gegangen, ging dann aber zurück, weil die Sehnsucht nach der „jüdischen Enge“, der er eigentlich entfliehen wollte, sehr groß war. Als er merkte, dass die Idee der Revolution, die er am Anfang gar nicht so schlecht fand, nicht aufgeht, dass sie missbraucht wird, von gedanklicher Freiheit ganz zu schweigen, beschloss er: „Das ist mir hier zu eng, das ist ja furchtbar!“, und ging über Umwege zuerst nach Berlin, dann nach Frankreich. Als Frankreich besetzt wurde, haben die Amerikaner ihm geholfen, so dass er quasi in letzter Minute Frankreich verlassen konnte. In New York ist seine Frau Bella gestorben, was wohl die tiefste Lebenskrise, die er je erlebte, auslöste. Er konnte monatelang nicht mehr arbeiten. Nachher ging er zurück nach Frankreich.

16vor: Chagall hatte doch auch mit seiner Haushälterin ein Kind?

Grützmacher: Ja, das war noch in New York. Aber die Ehe hielt nicht lange. Kurz darauf heiratete er Walentina Brodsky, die er „Wawa“ nannte. Wawa war dann die Geschäftsführerin des Unternehmens „Chagall“. Denn Chagall war ein sehr zurückgezogener Mensch, was Öffentlichkeit betrifft, und hat sich um sein Marketing überhaupt nicht gekümmert. Er hat über viele Jahre gar nicht gewusst, wie berühmt er ist. Er schuf in seinem kleinen Dorf Witebsk seine Wahnsinnswerke, die teilweise bereits in Umlauf kamen, und er hat das überhaupt nicht mitbekommen. Eigentlich fing es erst in der Pariser Zeit mit dem Geldverdienen wirklich an, bevor er in die Staaten ging.

16vor: Das heißt, verschiedene Stationen von Chagalls Leben haben Sie zu einem Tanzstück verarbeitet. Oder sagt man besser „Ballett“?

Grützmacher: Nein, ich sage, meine Stücke sind Tanzstücke. Ballett assoziiert die klassisch-akademische Form. Das kann man ja machen. Ich finde aber, der Inhalt bestimmt die Form, und ich suche mir die Form, die für mich passend ist, um Inhalt zu transportieren.

16vor: Und Sie haben das Tanzstück selber zusammengestellt?

Grützmacher: Ich habe es choreographiert und inszeniert, ja. Das Libretto habe ich auch geschrieben. Die Musik habe ich gemeinsam mit dem Klezmer-Klarinettisten Helmut Eisel zusammengestellt. Er hat dafür auch Musik komponiert. Es gibt aber auch Musik, die eingespielt wird, sowie Reden von Goebbels. Glenn Miller steht ganz klar für die New Yorker Zeit und man versteht den Sprung Goebbels – Flucht – New York. Klarer kann man es eigentlich nicht erzählen.

16vor: Werden denn auch Bilder von Chagall im Bühnenbild zu sehen sein?

Grützmacher: Das ist genau das, was ich vermeiden wollte: Bilder von Chagall direkt auf die Bühne zu bringen. Es wird einige Elemente aus seinen Bildern geben, zum Beispiel der Gekreuzigte, der Harlekin, der Grüne Geiger, der Rote Ziegenbock. Das sind also Elemente aus seinen Bildern. Und innerhalb des Bühnenbildes gibt es dann zwei Elemente aus seinen Bildern, die punktuell mit eingefügt werden. Die Farbgebung Chagalls wird über die Kostüme erzählt.

16vor: Gibt es noch etwas, das Sie gern erzählen würden?

Grützmacher: Ich könnte jetzt Stunden erzählen. Ehrlich gesagt, am Anfang dachte ich: „Aus so einem Picasso oder einem Dalí ein Stück zu machen, wäre erst einmal interessanter“ – weil die beiden vordergründig als Person viel mehr Ambivalenz zu bieten hätten. Aber wenn man sich mit dem Werk von Chagall beschäftigt, merkt man schon, was für eine Tiefgründigkeit dahinter ist. Ich glaube sogar mehr als bei Picasso. Ich habe mich auch mit Picasso beschäftigt, der hat manchmal schon bewusst begonnen, Dinge aufs Papier zu bringen, um einen Trend zu setzen. Hat es dann aber schnell wieder verworfen. Deswegen gibt es bei ihm auch zig verschiedene Phasen. Bei Chagall gibt es dagegen eine ziemliche Kontinuität in seinem Werk. (flo)

Marc Chagall – La Vie: Uraufführung von Sven Grützmacher mit musikalischer Livebegleitung durch Helmut Eisel (Klarinette) und Klezmerensemble. Premiere am Samstag um 19:30 Uhr (um 19 Uhr erfolgt im Foyer des Theaters eine Einführung in das Tanzstück).

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