Ob Brecht das so gewollt hätte?
Horst Ruprecht inszeniert Bertolt Brechts „Leben des Galilei“ am Trierer Theater als Verbeugung vor dem Werk und seinem Autor. Klassisch episches Theater, das man in dieser formalen Strenge gar nicht mehr für möglich gehalten hätte. Darin ein glänzendes Ensemble, allerdings vor einem bei weitem nicht ausverkauften Großen Haus am Augustinerhof. Und im Anschluss zur Premiere stehende Ovationen eines begeisterten Publikums für den Hauptdarsteller des Abends, Peter Singer, der 2014 in Ruhestand geht und mit dem Galilei schon jetzt seine Abschiedsrolle spielt. Allein, das Lehrstück schwächelt bei der Lehre.
TRIER. Der Entsetzensschrei gleich zu Anfang, grell und in Farbe, damit hier niemand auf falsche Gedanken kommt: Kennedy und Chruschtschow flankieren den strahlend-zerstörerischen Atompilz als raumfüllende Projektion: Ja, auch so kommt der wissenschaftliche Fortschritt daher. Der Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki bedeutete nicht nur für Bertolt Brecht das Ende eines unschuldigen Fortschrittsenthusiasmus (der unter diesem Eindruck sein Galilei-Manuskript abänderte), das gesamte 20. Jahrhundert war gezwungen, angesichts der technologischen Perfektion des Tötens seine Technikeuphorie noch einmal gründlich zu überdenken. Wenn so die neue Zeit aussieht, wollen wir sie dann überhaupt?
Diese Widersprüchlichkeit modernen Denkens steht für Regisseur Horst Ruprecht im Zentrum des Brecht-Stücks „Leben des Galilei“, das vom Aufbegehren gegen und Kapitulieren vor der herrschenden Ordnung erzählt. Und tatsächlich ist das Stück nicht nur seit seiner Ersterscheinung im Jahr 1939 ungebrochen aktuell; im Wesentlichen sind die Fragen, die den gegenwärtigen Diskurs um Technologie und Fortschritt bestimmen, bereits in Galileis Zeitgenossenschaft angelegt. Der Ruf nach einer Aufklärung der Aufklärung – inmitten des hochtechnologischen Zerstörungspotentials dieser Tage klingt er heute dringlicher denn je.
In der Lebensgeschichte des Gelehrten Galileo Galilei, der seine bahnbrechenden Entdeckungen wider besseren Wissens auf Geheiß der Kirche öffentlich widerruft, hat Bertolt Brecht all diese Konflikte festgeschrieben. Wie gespannt durfte man deshalb im Vorfeld sein, welche der großen Linien in der Trierer Aufführung im Vordergrund stehen würde: Die Krise der Wissenschaft in kapitalistischen Systemen (Universitätsangehörige zwischen ihren Stapeln von Drittmittelanträgen können ein Lied von diesen Zwängen der „freien“, aber marktkonformen Wissenschaft singen), die Abrechnung mit der Rückwärtsgewandtheit religiöser Dogmatiker (400 Jahre nachdem Galilei notierte: „Himmel ab Galilei steht die Welt gerade wieder an der Schwelle zu Religionskriegen“) oder aber die verlässliche Ideologie- und Herrschaftskritik, die sich in der Zwischenzeit ja leider auch immer noch nicht erledigt hat?
Wer derlei Erwartungen hegte, wurde in dieser Hinsicht inhaltlich enttäuscht: Es ist nicht die Frage nach der Aktualität dieses Stoffes, die vordergründig verhandelt wird, sondern die formale Perfektion des epischen Theaters. Der besonders starke Fokus dieser Inszenierung auf der Erzählstruktur droht zu überlagern, was das epische Theater bezwecken will: weg von der einlullenden Illusion, hin zum Verhandeln der großen Konflikte; hin zu wachen, kritisch denkenden Zuschauern, die die Fragen der Inszenierung in ihren Köpfen mit nach Hause tragen (und im besten Falle was daraus machen). In der historischen Form des Zugangs, den die Inszenierung Ruprechts wählt, geht dieser Anspruch verloren. „Es ist“, sagt eine Besucherin in der Pause, „als wäre ich auf Zeitreise: Diese Inszenierung hätte auch schon vor fünfzig Jahren in Berlin stattfinden können“.
Zwar gibt die reduzierte Ausgestaltung von Bühne und Kostümen (Ausstattung: Sabine Böing) ebenso wie die minimalistischen Piano-Arrangements der Musik Hans Eislers (Angela Händel) erst einmal nichts vor. Doch in der fast musealen Anmutung, die die formale Werktreue der Regie ausbreitet, bleibt diese Freiheit eine theoretische: Man vermisst eine sicht- und spürbare Akzentuierung eigener Schwerpunkte, die über die unverbindlichen Anspielungen auf Protestbewegungen der Gegenwart hinausgeht. Die Trierer Inszenierung von „Leben des Galilei“ ist unbenommen grundsolides, sehenswertes Theater mit einer durchweg geglückten schauspielerischen Besetzung, in der natürlich vor allem Hauptdarsteller Peter Singer eindrücklich beweist, warum er sich ausgerechnet dieses Stück und diese Rolle gewünscht hatte: Er verkörpert die Widersprüchlichkeit seiner Figur mit so viel Verve, dass ihm schon im ersten Aufzug der Schweiß im hochroten Gesicht steht.
Aber dann steht da auch die Frage, ob die Sehgewohnheiten eines Publikums im Jahre 2012 nicht andere Mittel und Wege verlangen, ehrbare Theaterziele zu erreichen. Wer in der vergangenen Spielzeit Judith Kriebels Inszenierung der „Mutter Courage“ gesehen hat, konnte lernen, dass Zeitlosigkeit und Aktualität durchaus zusammengehen können, ohne an inhaltlicher Tiefe und Relevanz einzubüßen und noch dazu auch niedrigschwellig zu funktionieren. In Ruprechts „Leben des Galilei“ droht in der formal-intellektuellen Strenge genau diese Ebene verschüttet zu werden: Dass es hier unbedingt um Fragen dieser Gegenwart geht, die man gerne im Kopf jedes einzelnen Zuschauers angekommen wissen will – hier weiß man es eben nicht. Denn das unbedingt Politische, das die Parabel „Leben des Galilei“ in jeder Faser durchdringt – man kann es in dieser Inszenierung sehen, muss es aber nicht. Ob Brecht das so gewollt hätte?
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von Kathrin Schug