„Wir schmeißen den Leuten die Kunst vor die Füße“

Wer Kunst sehen will, muss entweder ins Museum oder in die Galerie – könnte man meinen. Seit einigen Jahren jedoch können arglose Großstadt-Passanten am hellichten Tage mit zusammengerollten Kunstwerken beworfen werden. Die Idee zu dieser Form der Kunstvermittlung wurde vor mittlerweile sechs Jahren in Berlin geboren, mit dem 33-jährigen Mario Schmidt hat das Street-Art-Konzept „Papergirl“ nun auch Trier erreicht. Die Annahmephase hat am 1. Februar begonnen, jetzt hofft der Organisator auf rege Beteiligung und darauf, dass das Konzept auch in einer der kleinsten Großstädte Deutschlands aufgeht – auch wenn das ein oder andere Kunstwerk letzten Endes vielleicht im Mülleimer landen könnte.

TRIER. Wer in den Achtzigern seine Zeit vor Spielautomaten verbrachte oder aber in den frühen Neunzigern stolzer Besitzer eines Gameboys war, der kennt das Prinzip vielleicht aus dem Spiel „Paperboy“: Ein Fahrradfahrer steuert durch eine Straße und muss an den richtigen Stellen mit schwungvoller Geste zusammengerollte Zeitungen in die Vorgärten werfen.

Das Prinzip eignet sich jedoch nicht nur zur Zustellung der Morgenpost. Dass sich daraus auch eine neue Form von Kunstvermittlung im öffentlichen Raum stricken lässt, hat sich vor sechs Jahren eine findige Berliner Kunststudentin überlegt. Aisha Ronniger, die damals auch in der Street-Art-Szene aktiv war, sah sich damit konfrontiert, dass Plakate, Bilder und Aufkleber auf Wänden und Mauern in der Diskussion immer stärker kriminalisiert wurden. Da kam es wie gerufen, dass eine Freundin in den Vereinigten Staaten ihr einen Gedanken vor die Füße warf: Man müsste die Kunst an den Mann bringen, wie die Paperboys ihre Zeitungen. „Papergirl“ war geboren.

Ronniger sammelte Werke williger Künstler und bündelte sie zu handlichen Rollen. Kurz darauf fuhr die erste Fahrrad-Flotte durch Berlin, die Fahrer riefen „Achtung, Kunst!“ und warfen in Zeitungsjungen-Manier den verdutzten Passanten gerollte Kunst zu – ohne Erklärung, ohne Gegenleistung, ohne Bezahlung. Was damals seinen Anfang nahm, trägt inzwischen auch in anderen Ländern Früchte: In vielen Städten haben sich Schwesterprojekte gegründet, die den Alltag der Passanten mit den künstlerischen Wurfgeschossen torpedieren wollen. Nun soll „Papergirl“ auch in Trier Schule machen und Kunstwerke an neue Besitzer vermitteln, die noch gar nichts von ihrem Glück wissen.

Verantwortlich dafür ist Mario Schmidt. Als er vor zwei Jahren zum ersten Mal einen Bericht über das Phänomen sah, war er angefixt. „Auch, weil ich in meinem eigentlichen Job als Systemadministrator nicht viel Spielraum für Kreativität habe“, erklärt er im Gespräch mit 16vor. Ihm gefällt die Unmittelbarkeit der Kunsterfahrung; dass niemand forcieren kann, auf die Fahrradkolonne zu treffen, denn die Termine und Routen sind streng geheim.“Man kann diese Kunst nicht kaufen, man muss einfach Glück haben und zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein“, sagt er.

Überrumpelte Passanten im Fokus

Die Vermittlung von Kunst und die Reaktion der überrumpelten Passanten stehen meist im Fokus der Aufmerksamkeit, wenn das „Papergirl“-Projekt diskutiert wird. Mario Schmidt, der selbst passionierter Fotograf ist und gelegentlich zeichnet, hat aber auch die Anbieter-Seite im Blick. Er sieht in dem Projekt eine Chance für Kreative, die ihre Arbeiten bislang nicht öffentlich gemacht haben. „Es gibt viele Menschen, die im stillen Kämmerlein interessante Dinge machen, aber niemand weiß davon“, erklärt er und hat dabei auch die FH-Studierenden in den gestalterischen Studiengängen im Blick. Sein Verständnis von Kunst ist dabei ein zutiefst egalitäres: „Jeder, der tätig ist, ist für mich ein Künstler.“ Die einzige Vorgabe für die eingereichten Kunstwerke lautet daher, dass die Blätter rollbar sein müssen und die Maße 80 auf 80 Zentimeter nicht überschreiten dürfen. In diesem Rahmen ist erlaubt, was gefällt: Gemalte Bilder (oder deren Kopien), Drucke, Fotografien, aber auch Gedichte und Collagen. Weil die verteilten Werke parallel in einer Ausstellung gezeigt werden – für die Schmidt noch nach passenden Räumlichkeiten sucht – sollten die Werke im besten Fall in zweifacher Ausführung eingereicht werden.

Gleichzeitig ist das auch der Punkt, der ihn ein wenig nervös macht. „Ich bin ein wenig in Sorge, ob wir wirklich genug Werke zusammenbekommen, damit sich die ganze Sache lohnt“, sagt er und erzählt von dem Projekt in Hamburg, dem aufgrund geringer Resonanz die Berliner „Papergirls“ mit Werken aushelfen mussten. Die fünfmonatige Open-Call-Phase, in der jeder seinen Beitrag einreichen kann, hat jedoch gerade erst begonnen – und die ersten Einsendungen sind schon eingegangen. In Calin Kruse hat das Projekt außerdem einen Unterstützer gefunden, der in seinem Laden/Café/Grafikbüro „Die Rote Trude“ eine Annahmestelle eingerichtet hat. Wer Objekte zum Verteilen beisteuern will, kann sie hier abgeben. Wer etwas zur Verfügung stellt, muss allerdings auch damit leben, dass die Werke danach weg sind. „Es gibt kein Geld und keine Rückgabe, nicht einmal eine Garantie, dass die Rollen nicht im Mülleimer landen“, sagt Mario Schmidt. Ein Umstand, den er oft betont: „Die ersten haben nämlich schon angefragt, wann sie ihre Sachen nach dem Projekt denn wiederbekommen würden.“

„Politisch“ will Schmidt sein Kunstprojekt nicht nennen. Seine Motivation erklärt er lieber, indem er von seiner Jugend auf dem Dorf erzählt. „Alles, was irgendwie anders war, schürte dort Angst, Aggressionen und Ausgrenzung“, sagt er als jemand, der es wissen muss: Schmidt war der erste Wehrdienstverweigerer in seinem Ort. „Wären die Menschen kreativer und offener für Neues“, gibt er zu bedenken, „wäre vieles schöner“. Nicht nur vor dem Hintergrund seiner Dorfjugend weiß er aber auch, dass es Menschen gibt, die das anders sehen. Die Möglichkeit, dass ein Passant die Rolle achtlos weg- oder gar zurückwirft (so geschehen in Berlin), ist für ihn ein Risiko, das dazugehört: „Wir schmeißen den Leuten Kunst vor die Füße. Von dem Moment an ist es wie mit einem Blumensamen: Entweder er geht auf – oder eben nicht.“

Weitere Informationen über das Projekt finden Sie auf folgender Homepage.

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