„Wir kennen auch Glück“

Für Eltern ist es das Schrecklichste, was passieren kann: Erfahren, dass das eigene Kind sterben wird. Wer sich dazu entschließt, sein Kind zuhause zu pflegen, stellt sich nicht nur einer emotionalen, sondern auch einer organisatorischen Herausforderung. Doch die öffentlichen Angebote zur Unterstützung dieser Eltern sind rar gesät und oft unzureichend, sagen Petra Moske und Elisabeth Schuh vom Verein Nestwärme. Mit dem ambulanten Kinderhospizdienst haben sie nun ein Angebot aus der Taufe gehoben, dass diese Lücke schließen soll. 20 Ehrenamtliche wurden im ersten Fortbildungsjahrgang ausgebildet und leisten seitdem Unterstützung für Familien in der Region Trier. Ein Besuch bei Anja, Bernd und Chantale Schreiner.

TRIER/WELSCHBILLIG. Sitzt man am Küchentisch im hellen Wohnzimmer, blickt man durch die großen Fenster auf die hügeligen Wiesen der Eifel, auf knorrige Bäume und den großen Bolzplatz gleich hinter dem Haus. Das Kind, das in diesem Haus aufwächst, spielt weder Fußball, noch kann es auf Bäume klettern. Wenn Chantale Schreiner in wenigen Tagen ihren 15. Geburtstag feiert, geschieht das entgegen jeder Wahrscheinlichkeit. Ihr Diagnoseblatt angeborener Krankheiten umfasst eine halbe Seite: schwerer Herzfehler, mehrfache schwere Behinderungen, Autismus, Epilepsie, das von-Willebrand-Symptom, eine Blutgerinnungsstörung. „Aber unsere Chantale ist eben eine Kämpferin, das zeigt sie uns immer wieder gerne, nicht wahr?“, sagt ihre Mutter und streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Chantale dreht die Zotteln ihres Pullovers zwischen den Fingern und lacht.

Seit der Geburt ihrer Tochter hat Anja Schreiner sich ihrer Pflege verschrieben, und damit einem 24-Stunden-Job. Vom ersten Inhalieren morgens um halb sieben über das Füttern, Wickeln und Waschen ist die 42-Jährige bis zum Abend mit der Pflege beschäftigt, wenn Chantales Vater von seinem Vollzeitjob als Filialleiter im Einzelhandel nach Hause kommt. Über Nacht bleiben die Eltern über Monitor und Babyphon mit ihrem Kind verbunden. Denn was, wenn sie nachts wieder in Atemnot geriete?

Letztes Jahr an Weihnachten sah es so aus, als würde sie ihren Kampf verlieren. Ein Infekt, für gesunde Menschen harmlos, hatte sich über ihre Lunge in den kleinen Körper ausgebreitet, der den Erregern nichts entgegensetzen konnte – Chantale hat praktisch kein Immunsystem. Bis Fastnacht lag sie in der Homburger Uniklinik und schwebte zwischen Leben und Tod. Seitdem wird in dieser Familie kein Weihnachten mehr gefeiert. „Seit ihrer Rückkehr erleben wir jede noch so kleine Kleinigkeit als Sensation. Es ist unglaublich, dass sie wieder hier ist und es ihr nicht schlechter geht als vorher“, sagt Marlies Reuland.

Die Kinderkrankenschwester gehört zum ersten Absolventenjahrgang, der in den Räumen des Nestwärme e.V. zu ambulanten Kinderhospizhelfern ausgebildet wurden. In einem 200-stündigen Lehrgang wurden nicht nur die Themen Pflege und Palliativmedizin, sondern auch philosophische und psychologische Perspektiven auf Tod und Sterben behandelt. „Es ist wichtig, dass die Hospizhelfer sich bewusst mit diesen Themen beschäftigt haben und etwas dazu sagen können, wenn sie in die Familien gehen“, sagt Petra Moske, die das Programm gemeinsam mit Elisabeth Schuh initiiert hat. Prinzipiell ist die Ausbildung für jeden Interessierten offen, eine abgeschlossene Ausbildung im Bereich ist keine Voraussetzung: „Wir erwarten die Bereitschaft, den eigenen Horizont zu erweitern und sich offen auf dieses Thema einzulassen“, erklärt Elisabeth Schuh.

Für Familien wie die Schreiners wird mit dem Kinderhospizdienst eine Lücke gefüllt. „Die bestehenden Angebote an Familien mit Palliativkindern gehen allzu oft an den Bedürfnissen vorbei“, weiß Marlies Reuland, die seit 2006 mit sterbenden Kindern arbeitet; ganz zu schweigen von den bürokratischen Steinen, die vielen Eltern in den Weg gelegt werden. Auch Anja Schreiner empfindet das Angebot als Entlastung: „Ich habe jetzt eine Anlaufstelle und weiß, dass man dort versteht, wovon ich spreche.“ Mit jemanden über ihre Situation sprechen zu können, ist für sie keine Selbstverständlichkeit: „Ich habe es oft als schmerzhaft empfunden, dass die Themen Tod und Sterben in der Gesellschaft Tabuthemen sind, zumal, wenn es um ein Kind geht“, erklärt sie. „Es herrscht aber bei vielen eine falsche Vorstellung unserer Situation: Wir kennen auch Glück, hier ist auch ganz viel Freude.“

Mittlerweile geht Chantale an zwei Tagen in der Woche wieder in die Schule. Bis zu dieser Entscheidung war es ein langer Weg, der viel Überzeugungsarbeit gebraucht hat. Die Eltern wissen, dass jede Erkältung für ihre Tochter zum Verhängnis werden kann, trotzdem hat man sich schließlich dazu entschlossen, sie wieder in die Trierer Treverer-Schule zu schicken, die Chantale so gerne besucht: „Es ist ein Risiko, natürlich. Aber unsere Aufgabe ist es, ihre Tage so schön wie möglich zu machen. Wir können sie nicht vor allem beschützen“, sagt Marlies Reuland.

Auch wenn niemand weiß, wann – Chantale wird sterben. Und trotzdem: Es liegt mehr Freude als Trauer in diesem Haus. An der Wand hängen Bilder, die sie im Sommer gemalt hat. In einem Fotoalbum hat ihre Mutter Erinnerungen festgehalten: Chantale, wie sie mit trockenen Nudeln spielt, mit Farbe, mit grünem Glibber Slime, immer lachend. „Hat doch Spaß gemacht“, hat Anja Schreiner dazugeschrieben. Draußen ist es Nachmittag geworden, die Sonne scheint auf die Hügel, die Bäume und den Bolzplatz. Chantale ist in das Spiel mit ihrem Keyboard versunken. Ihre Mutter erzählt, wie sie manchmal stundenlang die Sonnenstrahlen auf den Küchentisch betrachtet und sich daran erfreut. „Es ist keine Belastung, sie zu pflegen“, erklärt sie, „vielmehr eine Bereicherung, jeden Tag und jede Stunde so intensiv mit ihr erleben zu können.“

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