„Viele Eltern überfordern ihr Kind“

Allenthalben ist in diesen Zeiten von Stresstests die Rede. Mit Beginn des neuen Schuljahres dürften sich in den meisten Familien mit schulpflichtigen Kindern die stressigen Situationen wieder häufen. Juliane Hellhammer hat reichlich Erfahrung mit dem Phänomen – als vierfache Mutter und als Leiterin des privatwirtschaftlichen Stress-Forschungszentrums daacro auf dem Petrisberg. Im Auftrag von Unternehmen erforscht sie die Auswirkungen von Stress auf die Gesundheit. Im gleichen Gebäude eröffnet in zwei Monaten das Stresszentrum Trier, das sich auch dem Stress im Kindesalter widmen wird. Im Gespräch mit 16vor erläutert Juliane Hellhammer, wie Eltern ihre Kinder stressen, woran man erkennen kann, ob ein Schüler unter Stress leidet, und weshalb die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen bei Studierenden nachweislich zu einer höheren Stressbelastung geführt hat.

16vor Wenn man in diesen Tagen mit Eltern von Erstklässlern spricht, spielt die Sorge um Stress eine große Rolle. Auch viele Publikationen widmeten sich in den letzten Jahren dem Thema. Sehen wir hier eine besorgniserregende Entwicklung oder handelt es sich um eine künstliche Debatte?

Juliane Hellhammer: Ich würde nicht von einer künstlichen Debatte sprechen, aber man achtet sehr viel stärker auf Stress als noch vor einigen Jahren – einfach, weil man mehr darüber weiß. Früher war es so, dass der Freiraum bis zur Einschulung eine Zeit war, in der Kinder spielen konnten und Eltern etwas entspannter waren. Heute wird vom Nachwuchs schon sehr früh Leistung erwartet.

16vor: Womit hängt das zusammen?

Hellhammer: Gerade im Zuge des demographischen Wandels gibt es sehr viele Elternhäuser mit nur einem Kind, daher fokussiert sich die gesamte Erwartung oft auf dieses einzelne Kind. Bei vier Kindern war es früher weniger dramatisch, wenn eines davon „aus dem Ruder lief“. Gerade in Deutschland mit seiner niedrigen Geburtenrate haben wir aber immer weniger Kinder, in die immer mehr Erwartung hineinprojiziert wird, und die deshalb auch immer mehr Leistung tragen müssen.

Die Eltern sind bestrebt, ihren Kindern Gutes zu tun, vom Klavierunterricht bis hin zu Fremdsprachenerwerb – Zusatzqualifikationen, die mitunter schon vor der Einschulung einsetzen. Nach der Einschulung kommen zu dem Schulpensum noch andere Anforderungen hinzu: Sport, Musik, Pfadfinder – das alles müssen die Kinder irgendwo unterbringen, und das erzeugt natürlich Druck.

16vor: Wie können Sie Stress messen und untersuchen?

Hellhammer: Wir unterscheiden zwischen Stress und dem Stressor, dem Auslöser, der meist von außen auf den Menschen einwirkt. Dann unterscheiden wir zwischen akutem und länger andauerndem Stressor. Im akuten Fall führt der Stress zu einer subjektiven und körperlichen Reaktion. Und diese beiden Dimensionen – wie gestresst fühlt sich jemand, und wie reagiert der Körper darauf – können wir untersuchen.

Das subjektive Empfinden kann man leicht erfragen, auch bei Kindern, das körperliche kann auch beispielsweise anhand des Stresshormons Cortisol oder der Herzratenvariabilität gemessen werden. Interessanterweise korrelieren subjektives Empfinden und körperlicher Stress nicht miteinander: Wenn jemand sagt „Ich fühle mich gestresst“, gibt uns das keinen zuverlässigen Hinweis auf die Situation im Körper und umgekehrt. Während Manager häufig subjektiv keinen negativen Stress empfinden, sehen wir an den Daten, dass sie schon im roten Bereich agieren.

16vor: Haben verschiedene Menschen also unterschiedliche Fähigkeiten, mit Stress umzugehen?

Hellhammer: Ja, die Kompetenzen aber auch die körperliche Veranlagung unterscheidet sich von Mensch zu Mensch. Bei der Stressanfälligkeit spielt es beispielsweise eine Rolle, ob die Mutter in der Schwangerschaft Stress ausgesetzt war; dann ist für den Embryo die Prädisposition gegeben, später sensibler auf Stress zu reagieren. Wir dürfen dabei allerdings nicht aus den Augen verlieren, dass die „Hardware“, mit der unser Körper auf Stress reagiert, eine uralte ist. Früher musste man für den Kampf oder die Flucht aktivieren, was dazu wichtig war: Die Konzentration nimmt zu, die Muskeln bekommen Energie und andere Organe, die wir in der Situation nicht brauchen, werden in Ruhe versetzt. Wenn wir heute unter Stress sind, finden immer noch die gleichen körperlichen Abläufe statt.

16vor: Wie kann man denn zwischen positivem und negativem Stress unterscheiden?

Hellhammer: Positiver Stress ist, wenn man Anforderungen hat, die man selbst dosieren kann und die Spaß machen. Negativer Stress hingegen bedeutet, dass eine Situation neu, unkontrollierbar und unvorhersehbar ist, und der Selbstwert einer Person dabei stark in Frage gestellt wird. Wenn diese Faktoren länger andauern, sprechen wir von negativem Stress, der den Menschen krank macht. Diese Situation kann bei Kindern durchaus nach Schuleintritt entstehen: neues Umfeld, Außenseiterposition im Klassenverband, Leistungsdruck, dem man sich nicht gewachsen fühlt, etc.

16vor: An welchen Symptomen können Eltern erkennen, ob ihr Kind unter Stress leidet?

Hellhammer: Die ersten Anzeichen können Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen, je nach Typ aggressives Verhalten oder sozialer Rückzug und vieles mehr sein. In der Regel handelt es sich um Verhaltens- oder Persönlichkeitsveränderungen, die man bisher nicht an seinem Kind kennt. Eltern sollten aufmerksam beobachten und sich nicht scheuen, eines der zahlreichen Beratungsangebote in Anspruch zu nehmen. Eltern tun wohlmeinend viel Gutes für ihre Kinder, aber ein geschulter Außenstehender kann einfach andere Dinge wahrnehmen, Zusammenhänge sehen.

16vor: Was können Ursachen für Stress bei Kindern sein?

Hellhammer: Häufig spielen bei Kindern Über- oder Unterforderung eine Rolle. Meine eigene Erfahrung bei der Testung von Schülern hat mir immer wieder gezeigt: Viele Eltern haben bestimmte Wunschbilder für ihre Kinder im Kopf, zum Beispiel, dass das Kind später einmal die Arztpraxis des Vaters übernehmen soll. Wenn das Kind sich aber eher für handwerkliche Tätigkeiten interessiert, können Eltern das oft einfach nicht wahrnehmen und überfordern ihr Kind damit, ohne es eigentlich zu wollen.

16vor: Wie geht es weiter, wenn bei einem Kind Stress als Ursache von Problemen festgestellt wird?

Hellhammer: Das ist von Fall zu Fall unterschiedlich, aber nach einer gründlichen Diagnostik würde man verschiedene und sehr individuell Maßnahmen ausloten: Veränderungen im Umfeld, das Einüben von Entspannungsverfahren oder anderen Verhaltensweisen bis hin zu einer Ernährungsumstellung und vieles mehr.

In jedem Fall sollte man nicht sofort und leichtfertig zu Medikamenten greifen. Der Einsatz von Ritalin hat uns beispielsweise gezeigt, dass hier der Einsatz nicht immer gerechtfertigt war. Möglicherweise waren bei den ADHS-Diagnosen auch einige einfach Über- und Unterforderte dabei, bei denen das häusliche Umfeld es nicht zuließ, dass man sich intensiv mit dem Kind beschäftigte.

16vor: Können Sie einschätzen, wie viele Schüler unter Stress leiden?

Hellhammer: Zum Anteil an den Schülern sind mir keine Angaben bekannt. Was wir aber zuverlässig wissen, ist, dass Studenten seit der Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge stärker unter Stress leiden. Während Studententum früher als eher lässiger Lebensabschnitt galt, hat sich die Befindlichkeit der Studenten seit der Hochschulreform gewandelt: wenn wir heute Untersuchungen zu gestressten Populationen machen, sind Studenten häufig als gestresste Gruppe unsere Probanden.

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