„Unser Marx war Demokrat“

Mit der Eröffnungsrede Gregor Gysis zur Installation von Ottmar Hörl Anfang Mai haben die Diskussionen über Erbe und Vermächtnis von Karl Marx einen spürbaren Höchststand in Trier erreicht. Längst geht es dabei nicht mehr nur um die Berechtigung eines Kunstwerks, sondern tief in die inhaltliche Materie. Was sich in Trier seit einigen Wochen in konzentrierter Form abspielt, schwelt in Wissenschaft, Kultur und Medien schon seit mehreren Jahren: Spätestens mit der Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Jahr 2008 haben auch bürgerlich-konservative Akteure das Feld der Kapitalismuskritik für sich entdeckt. Vor diesem Hintergrund lud die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung am Mittwochabend zu einer öffentlichen Diskussion in die Viehmarkttherme. Unter dem Titel „Karl Marx, die Sozialdemokratie und die Gesellschaft heute“ diskutierten Gerald Hubmann, Thomas Meyer, Christian Z. Schmitz und Alexander Schweitzer über die Implikationen von Karl Marx für die Gegenwart.

TRIER. Marx sei „en vogue“, leitet Anja Kruke die Gesprächsrunde ein. In Feuilleton, Wissenschaft und sozialen Bewegungen tauchten der Philosoph und seine Werke in den vergangenen Jahren verstärkt auf, die Publikationsdichte habe enorm zugenommen. Nicht nur die SPD erinnert sich in diesen Tagen an ihren Ursprung in der Arbeiterbewegung und der Marxschen Gesellschaftsanalyse; auch Vertreter des bürgerlich-konservativen Lagers kokettieren mit Marx als Chiffre für ihre kapitalismuskritischen Erkundungen, allen voran FAZ-Feuilleton-Herausgeber Frank Schirrmacher. Gleichzeitig entstehen weltweit soziale Bewegungen wie Occupy, die sich mehr oder weniger explizit gegen das wenden, was unter der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft subsummiert wird.

Diese Stränge in einer Fragestellung miteinander zu verknüpfen, versucht die Diskussion unter der Moderation von Anja Kruke. Mehrere Fragen, die für sich genommen Garant für abendfüllende Gesprächsrunden wären, sollen hier verhandelt werden: Wie geht die Sozialdemokratie mit Gesellschaftskritik heute um? Worauf bezieht sie sich, wie nimmt sie die gesellschaftliche Realität wahr? Welche Rollen spielen die Geisteswissenschaften und die Philosophie, wenn der kritische Impetus aus dem Netz 2.0 zu kommen scheint? Viele Fragen, komplizierte Fragen – eine Kombination, die eine Diskussionsrunde fast zwingend dazu verdammt, unbefriedigend zu sein. In diesem Fall gilt das jedoch nicht, denn das Gespräch veranschaulicht gleich mehrere Momente, die bemerkenswert sind.

Marx neu verstehen lernen

Zunächst lässt sich beispielhaft lernen, was der Versuch bedeutet, die Deutungshoheit über einen Begriff (zurück) zu erlangen. „Man darf Marx nicht in der Ecke lassen, wo die Marxisten ihn hingestellt haben“, fordert Gerald Hubmann, der als Arbeitsstellenleiter der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) keinen geringen Anteil an der wissenschaftlichen Wiederentdeckung von Marx hat. Er schießt gegen jene, die Marx bis heute begrifflich besetzen und plädiert nicht nur für eine neue Lektüre anhand der historisch-kritischen Ausgabe, sondern auch für eine andere Erwartungshaltung an die Rezeption: „Marx ist nicht verwendbar, um unsere Krise zu lösen“. Der Versuch des real existierenden Sozialismus, mit Marx praktische Politik zu machen, sei „ein Fehler“ gewesen. „Das können wir von Marx nicht erwarten.“ Es sei gerade die aktuell einsetzende „Dekonstruktion von Marx“, die neue Anknüpfungspunkte schaffe.

Auch Thomas Meyer, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Grundwertekommission, kritisiert „Versuche der Vereinnahmungen von Marx, die behaupten, Marx sei Leninist gewesen“ und betont den Fokus einer sozialdemokratischen Lesart: „Unser Marx war Demokrat.“ Er erinnert an die marxistischen Ursprünge der SPD, die mit dem Godesberger Programm „zwar relativiert, aber nicht aufgekündigt“ wurden. „Die Zielsetzung einer gerechten Gesellschaftsordnung war die Forderung des demokratischen Sozialismus, heute nennen wir es Sozialdemokratie.“ Wer die demokratischen Implikationen in Marx‘ Werk leugne, versündige sich an zentralen Grundsätzen. Er würdigt Marx als politischen Richtungsgeber, schränkt aber die praktisch-politische Anwendbarkeit ein: „Mit Marx können wir viel verstehen, vieles in Frage stellen, aber kaum Politik machen. Dafür sind die Hinweise im Werk zu spärlich. Wir müssen Marx verwenden, um die Gegenwart zu diagnostizieren, Krisen und Probleme besser zu verstehen und daraus eine bessere Politik zu machen.“

„Der Kapitalismus hat 1989 nicht gewonnen, er ist übrig geblieben“

Neben dieser grundlegenden Positionsbestimmung ist sich das Podium weitgehend einig in der gesellschaftlichen Gegenwartsdiagnose: „Der Kapitalismus hat 1989 nicht gewonnen, er ist übrig geblieben“, so Alexander Schweitzer, Landesminister für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Demografie. Seit den Achtziger Jahren habe der Kapitalismus das aufgekündigt, was als „sozialdemokratischer Kompromiss“ zum Mantra der wirtschaftspolitischen Ausrichtung der Bundesrepublik geworden war: Soziale Marktwirtschaft als Handreichung zwischen Kapitalinteressen und Sozialstaatlichkeit. Diese Sozialpartnerschaft sehen die Diskussionsteilnehmer beendet: „Viele Menschen sind entsetzt, mit welcher Radikalität der Kapitalismus sich von den sozialen Fesseln gelöst hat und nur noch den Marktinteressen folgt. Diese Erfahrung ist uns in die Knochen gefahren“, sagt Thomas Meyer. Dass die politische Linke nicht stärker von diesen Entwicklungen profitiere, ist für Meyer auch ein Problem der Darstellung politischer Probleme in den Medien. „Linke und sozialdemokratische Positionen sind aus dem medialen Diskurs verschwunden, dort gibt das Neubürgertum den Ton an, das angeödet, ja regelrecht angewidert von sozialen Ideen ist“, erklärt er. „Diese Konstellation ist eine kräftige Blockade gegen die öffentliche Diskussion von sozialdemokratischen Inhalten.“

Einigkeit herrscht ebenfalls über die Einschätzung der momentanen Situation als eine historische, wobei die Verortungen weit auseinander gehen: Aus den gescheiterten Antworten des Marktliberalismus folgert Meyer ein „sozialdemokratisches Moment der Geschichte“, das Regulierung und Umverteilung möglich mache: „Die Voraussetzungen dafür sind so gut wie lange nicht mehr“. Eine Gegenwartsdiagnose, die DGB-Regionsgeschäftsführer Christian Z. Schmitz als differenzierter Pessimist der Runde nicht mitträgt: „Der Neoliberalismus liegt mitnichten am Boden: Die Festschreibung der Austeritätspolitik in der EU, die ungerechte Reichtumsverteilung auf nationaler Ebene, die mangelnden Aufstiegschancen durch Bildung – wir stehen vor sozialen Verwerfungen.“ In seiner täglichen Arbeit sieht der Gewerkschafter sich in der Defensive: „Politisches Wirken muss heute darauf ausgerichtet sein, zu retten, was zu retten ist. Wir müssen in dieser Situation Alternativen bewahren, wie Gesellschaft aussehen kann, damit unsere Kinder mehr denken können als eine marktkonforme Demokratie. Auch im Defensivkampf kann Klassenbewusstsein stattfinden.“

Unterschiedliche Ansichten zu Occupy

Schweitzer, der sich nicht scheut, aus dem Kommunistischen Manifest zu zitieren, erteilt dem Begriff des Klassenbewusstseins eine Absage („Eine Konstruktion, die in der Debatte keine Rolle spielt“) und will sich der Einschätzung Schmitz‘ nicht anschließen: „Ich sehe mehr Anlass zur Hoffnung als zur Bestürzung“, sagt er und beruft sich dabei auf neue soziale Bewegungen wie Occupy: „Da kommen junge Menschen zusammen, die das neoliberale Brainwashing leid sind, die ihr Leben nicht nach Konkurrenzdruck ausrichten wollen, die Gesellschaftskritik unideologisch und popkulturell betreiben und sich dabei auch – ikonographisch, aber positiv – auf Marx berufen.“ Schmitz zeigt sich in der Bewertung dieser Bewegungen skeptischer: „Die Positionen von Occupy zur Staatsschuldenkrise sind teilweise schockierend: Daran ist nichts durchdacht, nichts sozialistisch, und besonders bedenklich sind die stellenweise antisemitischen Zungenschläge.“

In dieser Frage, wie auch an vielen anderen Stellen, können die Ausführungen der Diskutanten lediglich eine schimmernde Idee davon geben, was zu sagen wäre. Fasst man den Titel des Diskussionsabends als eine Frage auf, gibt Thomas Meyer eine konzise Bestandsaufnahme, die einer konsensfähigen Antwort nah kommen dürfte: „Es gibt Gewissheiten, die während der ganzen Zeit richtig geblieben sind: Wenn man dem Kapital das Feld überlässt, wird die Gesellschaft zerstört. Wir müssten Alternativen finden, im Interesse der Menschheit. Wie wir zu diesen Alternativen kommen, hängt allerdings von den Umständen ab.“

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