„Trier glich einem Heerlager“
In diversen Medien wird bereits seit geraumer Zeit der Begriff des „Supergedenkjahrs“ 2014 herumgereicht. Vor 25 Jahren fiel die Berliner Mauer, vor 75 Jahren begann der Zweite Weltkrieg. Vor 100 Jahren brach der Erste Weltkrieg aus, den man im Nachbarland bis heute „la Grande Guerre“ nennt und den der us-amerikanische Diplomat und Historiker George F. Kennan einmal als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnete. Die Kriegshandlungen zwischen 1914 und 1918 trafen auch die frontnahe Garnisonsstadt Trier. Von hier aus starteten deutsche Soldaten in Richtung Luxemburg, um das Land einen Tag vor der Kriegserklärung an Frankreich zu besetzen. Wie auch im Rest des Kaiserreichs waren viele Menschen anfangs begeistert – und zahlten schließlich einen hohen Preis.
TRIER. Es war in der Nacht zum 2. August 1914, unmittelbar nach der Mobilmachung, als 50 leere Lastwagen die Römerbrücke überquerten. Ihr Ziel: die Kasernen in Trier-West. Dort stiegen Soldaten auf, anschließend starteten die Kolonnen gleichzeitig mit einem Panzerzug „in stockfinsterer Nacht“ in Richtung luxemburgische Grenze, wie es der Historiker Emil Zenz beschreibt. Der folgende 2. August stand ganz im Zeichen der Besatzung des Großherzogtums, erst am 3. August erklärte Deutschland dem damaligen „Erbfeind“ Frankreich den Krieg. Jedoch markieren der Grenzübertritt und die Besetzung Luxemburgs einen Tag zuvor den Beginn der deutschen Truppenbewegungen ins Ausland – von Trier aus.
Die Luxemburger waren nicht begeistert – Großherzogin Marie Adelheid und Regierungschef Paul Eyschen legten Protest ein. Da der kleine souveräne Staat seit Auflösung der preußischen Garnison 1867 waffenlos und neutral war, musste man die deutschen Besatzer gewähren lassen. Das deutsche Außenministerium ließ zur Schadensbegrenzung mitteilen, dass die Besatzung „bedauerlicherweise unvermeidlich“ sei, französische Streitkräfte seien im Vormarsch auf Luxemburg – „Not kennt kein Gebot.“ Ein feindlicher Akt sei nicht beabsichtigt, man sicherte vollen Ersatz für eventuelle Schäden zu. Trotz des weiter friedlich verlaufenden zivilen Lebens in Luxemburg gingen die deutschen Truppen nicht ganz zimperlich mit der Bevölkerung um, zahlreiche Verhaftungen bezeugen dies. Zwischen 2000 und 3000 Luxemburger schlugen sich derweil freiwillig auf die Seite der Franzosen und Belgier und kämpften mit diesen gegen Deutschland.
Seit der Mobilmachung, aber besonders seit dem Morgen des 3. August, dem Tag der Kriegserklärung, mussten die benachbarten Trierer deutliche Einschränkungen in Kauf nehmen. So wurden die Römerbrücke und die erst ein Jahr zuvor eingeweihte Kaiser-Wilhelm-Brücke mit bewaffneten Posten abgeriegelt. Die Zufahrtsstraßen nach Trier kontrollierte das Militär ebenso wie das Telegraphennetz. Als grenz- und frontnahe Garnisonsstadt mit zahlreichen Kasernen und Lazaretten war die Bedeutung der Stadt für den Krieg immens. Auf die Trierer kamen damit ungewohnte Zeiten zu, gleichwohl die Moselstädter – wie viele andere Bewohner des Kaiserreichs – anfangs in Euphorie badeten. Es herrschte der Ausnahmezustand: Schulen waren geschlossen, Freiwillige standen vor den Kasernen Schlange. Die deutschen Truppen sorgten in Trier für Staunen. So berichtet Zenz in seiner Chronik von der „funkelnagelneuen Ausstattung“ und den vielen Kraftfahrzeugen des Militärs – ein Anblick, den viele so nicht kannten. „Trier glich einem Heerlager“, beschreibt es Rainer Ludwig im neuen Jahrbuch Kreis Trier-Saarburg. So beherbergte die Stadt verschiedene Regimenter von Infanterie und Artillerie, zwei Kavallerieregimenter, ein Pionierbataillon und selbst eine Luftschifferkompanie. Begleitet wurde das Ganze von im ganzen Stadtgebiet ertönenden „Hurra“-Rufen und feurigen öffentlichen Ansprachen.
Dennoch bot die Stimmung zu Kriegsbeginn einen idealen Nährboden für Gerüchte und allumfassende Paranoia. Überall wurde der „Feind“ gesehen – selbst in den Orten rund um Trier wurden Tag- und Nachtwachen eingerichtet, fremde Personen mussten sich Kontrollen unterziehen. Wer ohne Papiere unterwegs war – damals nicht unüblich – oder auch nur den Anschein erweckte, Ausländer zu sein, wurde verhaftet. Für viele Reisende, die sich zum Zeitpunkt von Mobilmachung und den ersten Kriegstagen in und um Trier aufhielten, bedeutete dies unvorhergesehenen Ärger.
Derweil zeigten sich nicht alle Trierer begeistert vom Säbelrasseln: Dass sich einige zumindest in irgendeiner Weise kritisch geäußert haben müssen oder verleumdet wurden, bezeugt eine Äußerung des damaligen Regierungspräsidenten Balz: „Es sind bisher in das hiesige Strafgefängnis, das zu diesem Zweck mit Matratzen seitens der Garnisonverwaltung ausgestattet worden ist, 60 unsichere politische Persönlichkeiten eingeliefert worden.“ Zudem beschwerte sich Balz Ende August 1914 über den mangelnden Nationalismus der Trierer. Sie würden den französischen Kriegsgefangenen trotz der Androhung von Strafe „die verschiedentlichsten Genussmittel wie Zigarren, Zigaretten pp. zustecken.“
Der Angriff des Luftschiffs „Fleurus“
Eine ganz andere Konsequenz für Trier war wohl für viele überraschend: Wegen ihrer Grenznähe und strategischen Bedeutung suchten Luftangriffe die Stadt heim. Neben den diversen hier stationierten Regimentern waren der Eisenbahnknotenpunkt und ein Flugfeld bei Euren mitsamt stationiertem Luftschiff strategische Ziele. Was dabei kaum jemand wusste und auch heute noch oft unbekannt ist: Bereits eine Woche nach Kriegsbeginn schrammte die Stadt an einer kleinen Katastrophe vorbei. Das französische Luftschiff „Fleurus“ hatte in der Nacht vom 9. auf den 10. August eine Bombenlast von 172 Kilogramm von Verdun bis über die alte Römerstadt transportiert. Das Ziel: der Trierer Hauptbahnhof. Lediglich Glück im Unglück verhinderte Schlimmeres. Aus unbekannten Gründen bombardierte das Schiff, das gegen Mitternacht über der Stadt schwebte, anstatt des Hauptbahnhofs die Bahnanlagen bei Konz-Karthaus. Die Konsequenzen waren überschaubar: Zwei Granaten endeten als Blindgänger, zwei weitere explodierten außerhalb der Gleise.
Die schlafenden Trierer indes ahnten nicht, in welcher Gefahr sie sich bereits nach der ersten Kriegswoche befanden; derweil die deutschen Behörden ihr Möglichstes unternahmen, um den Vorfall als einzelnes, von deutschen Jägern verfolgtes Feindflugzeug zu leugnen. Der Trierer Heimatforscher Adolf Welter vermutet, dass „die in ganz Deutschland verbreitete Kriegsbegeisterung einen argen Dämpfer erhalten hätte“, wenn die Presse so kurz nach Kriegsbeginn von einem gigantischen gegnerischen Luftschiff über der Stadt anstatt eines einzelnen kleinen Flugzeugs berichtet hätte. So geriet auch diese erste Bombardierung in Vergessenheit. In der Geschichtsschreibung setzte sich die Sichtweise durch, dass die Bombardierung des Flugplatzes bei Metz die erste der französischen Luftwaffe sei. Tatsächlich aber war es wohl der Angriff auf Konz-Karthaus.
Die Militärs hatten nicht nur das Luftschiff, sondern auch das wesentliche wendigere Flugzeug als Waffe auf beiden Seiten gerade erst entdeckt, die Technik steckte in den Kinderschuhen. So ließ der erste – aus französischer Sicht – erfolgreiche Luftangriff auf das Stadtgebiet dann noch ein Jahr auf sich warten. Am 13. September 1915 warfen 19 französische Flugzeuge um die 100 Artilleriegranaten auf Trier – als Vergeltung für deutsches Bombardement bei Luneville und Compiègne. Die Stadt wurde teilweise schwer beschädigt, es gab Verletze und Tote. Auch die Sachschäden waren trotz der im Vergleich zu den verheerenden Bombardements des Zweiten Weltkriegs eher primitiven Technik beachtlich, so wurden allein bei diesem ersten Flugzeugangriff mehrere Wohnhäuser, der Hauptbahnhof und die Liebfrauenkirche in Mitleidenschaft gezogen.
Bei letzterer durchschlug eine Granate das Dach und richtete im Inneren großen Schaden an. Die Gottesdienstbesucher hatten sich auf Anweisung des Pfarrers – zu ihrem Glück – zuvor im Domkreuzgang verschanzt. Augenzeugenberichten zufolge flogen die Franzosen so tief, dass sogar das französische Hoheitsabzeichen auf dem Leitwerk der Flugzeuge vom Boden erkennbar gewesen sein soll. Dass die Bomber Trier direkt so erheblich treffen konnten, lag auch an der in diesem Fall wirkungslosen Luftverteidigung. Zwar befanden sich auf den Höhen um Trier mehrere Flakgeschütze, aber diese eröffneten das Feuer erst, nachdem die ersten Granaten eingeschlagen und die Sirenen unüberhörbar waren. Zu allem Überfluss musste später eine Flakgranate in der Nähe der Römerbrücke gesprengt werden.
Bei diesem Angriff sollte es nicht bleiben, es folgten viele weitere. Häufig sorgte Sperrfeuer auf den um Trier stationierten Geschützen dafür, dass Luftangriffe auf die Stadt abgebrochen und auf andere Orte gerichtet wurden. Welter geht in seinem Buch „Die Luftangriffe auf Trier im Ersten Weltkrieg 1914-1918“ von mindestens 145 Luftalarmen aus, wovon 22 Bombardements des Stadtgebiets nach sich zogen. Ein Ziel hatte die französische Luftwaffe damit erreicht: die Trierer hatten Angst. So gibt es Berichte von Paniken während feierlicher Fronleichnamsprozessionen.
Gleichwohl dieser Krieg Millionen Menschen an der Front das Leben kostete – auch im Landesinneren kamen allein in Trier 29 Menschen unmittelbar durch Luftangriffe ums Leben. Damit war der Preis, den Trier für Nationalismus und Kriegsbegeisterung zahlte, deutlich höher als bei vielen anderen deutschen Städten.
Quellen
Rainer Ludwig (2013). Der Weg in den Ersten Weltkrieg und die ersten Kriegswochen in Luxemburg und Belgien. In: Jahrbuch Kreis Trier-Saarburg 2014, S. 9-22.
Barbara Weiter-Matysiak (2013). „Heimatfront“ im Trierer und Saarbuger Land. In: Jahrbuch Kreis Trier-Saarburg 2014, S. 23-37.
Adolf Welter. Die Luftangriffe auf Trier im Ersten Weltkrieg 1914-1918. Petermännchen-Verlag der Trierer Münzfreunde. Trier 2001.
Emil Zenz. Die Stadt Trier im 20. Jahrhundert. Spee-Verlag Trier, 1981.
von Marcel Pinger