Niemand kommt freiwillig

Im Norden Triers leben in vier ehemaligen Kasernengebäuden bisweilen fast so viele Menschen, wie der Stadtteil Filsch Einwohner zählt. Wieder einmal platzt die Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende (AfA) aus allen Nähten. Nun wurden Wohncontainer aufgestellt, AfA-Leiter Wolfgang Bauer und Integrationsministerin Irene Alt (B90/Die Grünen) hoffen so, die Situation entspannen zu können. Beim Multikulturellen Zentrum warnt man vor Panikmache, kritisiert aber auch die zögerliche Reaktion der Landesregierung. Das habe die „unzumutbaren Zustände weiter verschärft“. Dass verstärkt Menschen aus Serbien und Mazedonien kommen, führt man beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurück, das Asylbewerbern ein Anrecht auf höhere Sozialleistungen einräumt. Alt und das Multikulturelle Zentrum verweisen hingegen auf die anhaltende Diskriminierung der Roma.

TRIER. Mihret Bajric lehnt an der Wand, die Hände lässig in den Hosentaschen. Die Luft ist stickig, der Sauerstoff knapp. Es mieft im Flur von Haus 4 der Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende (AfA) in der Dasbachstraße. Auch an diesem Mittwochmorgen herrscht wieder Hochbetrieb. Täglich wächst die Zahl der Flüchtlinge, die in Trier-Nord unterkommen. Um einen großen Tisch herum sitzen Männer und Frauen, Kinder tollen im Raum herum. Das Lachen der Kleinen durchbricht die gedrückte Stimmung, die sich hier breitgemacht hat. Die Warterei, das Totschlagen der Zeit setzt vielen zu. Mihret Bajrics dunkle Augen fixieren nun sein Gegenüber: „Glauben Sie, von uns kommt einer freiwillig hierher?“, fragt er unvermittelt.

Was auch immer die Motive sind, die Menschen von weit her nach Deutschland führen – tauschen möchte wohl niemand mit ihnen. Mögen die Verhältnisse in der AfA objektiv gesehen auch deutlich besser sein als sagen wir im Kosovo oder in Afghanistan – was heißt das schon? Dass Menschen in der Hoffnung auf ein besseres Leben ihr Herkunftsland verlassen, ist im Übrigen kein neues Phänomen, und auf Entwicklungsländer beschränken lässt es sich auch nicht. Doch während hierzulande manch einer seine „Flucht“ nach Neuseeland, Kanada oder Spanien für gutes Geld im Privatfernsehen zelebriert, nimmt von den meist völlig mittellosen Bewohnern der AfA kaum jemand Notiz. Dabei leben bisweilen mehr als 800 Menschen in der Einrichtung. „Sozialverträglich“ wäre Platz für 560, auch wenn 760 Betten zur Verfügung stehen. Am Mittwoch zählte man rund 650 Bewohner.

Wolfgang Bauer arbeitet seit 1999 in der AfA. „Im Jahr 2002 herrschte ein ähnlicher Andrang“, erinnert sich der Regierungsrat, damals seien vor allem Flüchtlinge aus dem Irak gekommen. Sein Büro gleicht einer kleinen Kunstgalerie, sämtliche  Wände hängen voll mit bildender Kunst – geschaffen von Menschen, die in den vergangenen Jahren vorübergehend hier untergebracht waren. Der AfA-Leiter steht jetzt vor dem Gemälde einer Syrerin. „Sprung in die Freiheit“ hat sie ihr Werk genannt. Die Frau sei schwer traumatisiert gewesen, unter anderem habe sie nicht gewusst, wo ihr Kind abgeblieben war, berichtet Bauer, und dass sie meist nachts gemalt habe. Bauer sagt auch, dass man nicht alles an sich heranlassen dürfe bei dieser Arbeit – und „dass wir helfen, wo wir können“.

Im Moment benötigt auch das Team der AfA Hilfe, denn allein wird man dem Ansturm nicht mehr Herr. Zwar herrscht auf dem Gelände kein Chaos, und auch zu ernsthaften Auseinandersetzungen zwischen den Bewohnern, die auf engstem Raum zusammenleben, soll es noch nicht gekommen sein. Doch ist die Einrichtung seit Monaten überbelegt. Praktisch alle Gemeinschaftsräume wurden in Schlafsäle umgewandelt, auch der Kindergarten, berichtet Bauer. Diese Woche wurden nun auf Geheiß der Landesregierung zehn Wohncontainer aufgestellt, diese sollen insgesamt 80 Flüchtlingen Platz bieten. Das Mainzer Integrationsministerium hat außerdem veranlasst, die frühere Zentrale Aufnahmestelle (ZAST) in Ingelheim so herzurichten, dass dort 216 Menschen untergebracht werden können.

Eine Maßnahme, die man beim Multikulturellen Zentrum kritisch sieht: „Angesichts der seit Wochen vorherrschenden Situation stellt sich die Frage, warum keine schnellen Maßnahmen zur Verbesserung der Lage getroffen werden“, erklärt Ilyas Pinar, Geschäftsführer des Zentrums. „Außerdem müssen andere dezentrale Lösungen gefunden werden, anstatt ein neues Sammellager in unmittelbarer Nähe zum Abschiebegefängnis Ingelheim einzurichten.“ Diese Maßnahme stelle jedenfalls keine langfristige Lösung dar. Pinar fordert zudem einen zügigeren Transfer an die Kommunen. Im Regelfall bleiben die Flüchtlinge bis zu drei Monate in der AfA. In dieser Zeit wird geprüft, ob die Bewohner berechtigt sind, einen Antrag auf Asyl zu stellen. Ist dies der Fall, werden sie parallel zur Eröffnung des Asylverfahrens verschiedenen Kommunen in Rheinland-Pfalz zugeteilt, erläutert das Ministerium. Laut Bauer beträgt die Verweildauer in Trier mittlerweile aber meist nur noch einen Monat.

Mihret Bajric kam gemeinsam mit seinen Eltern, seinem Bruder und dessen Frau vor knapp einem Monat aus Bosnien nach Deutschland. Wie die meisten der aktuellen Flüchtlinge ist er Roma. In seinem Herkunftsland würden Roma systematisch diskriminiert, berichtet er, nur wolle das hierzulande niemand wissen. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge stieg die Zahl der Asylanträge im September 2012 gegenüber dem Vormonat um fast 28 Prozent auf bundesweit knapp 6.700 Erstanträge. Unter den Hauptherkunftsländern waren die Balkanstaaten Serbien und Mazedonien, außerdem das Bürgerkriegsland Syrien. Allein die Zahl der Erstanträge von Mazedoniern stieg demnach von 620 auf 1.040 Anträge. Mit 1.395 Antragstellern aus Serbien habe man fast eine Verdreifachung der Antragszahlen im Vergleich zum Vormonat verzeichnet, so das Bundesamt. Die Behörde führt die steigenden Zahlen aus Serbien und Mazedonien auch auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts zurück, das Asylbewerbern ein Anrecht auf höhere Sozialleistungen einräumt.

Solcherart Ursachenforschung kann Eileen Becker wenig abgewinnen. Die Studentin engagiert sich ehrenamtlich für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, kürzlich erst wurden sie und weitere Mitstreiterinnen für ihr Projekt „Verstärker“ ausgezeichnet. Die Roma würden in ihren Herkunftsländern „sehr stark diskriminiert“, beispielsweise bei der Arbeits- und Wohnungssuche, gibt Becker zu bedenken. Statt Flüchtlingen vorzuwerfen, sich auf der Suche nach einem besseren Leben in Deutschland niederlassen zu wollen, fordert die junge Frau konkrete Unterstützung. Von einer Wiedereinführung der Visumspflicht für Menschen aus Serbien und Mazedonien hält sie nichts.

Da ist sich Eileen Becker mit der Mainzer Integrationsministerin einig. Irene Alt erteilt entsprechenden Forderungen von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) ebenfalls eine klare Abfuhr: „Die Menschen, die zu uns kommen und einen Asylantrag stellen, haben in ihren Herkunftsländern Diskriminierung, große Not und oft auch Gewalt erlebt. Sie haben ein Recht auf ein ordnungsgemäßes und sorgfältiges Asylverfahren“. Viele der Flüchtlinge, die aus Serbien oder Mazedonien nach Deutschland kommen, gehörten zudem den Roma an, „die in diesen Ländern bekanntermaßen massiv diskriminiert werden“, so Alt. Bevor nun über eine Wiedereinführung der Visumspflicht nachgedacht werde, müssten vielmehr die Lebensverhältnisse der Roma in ihren Herkunftsländern deutlich verbessert werden. „Dies fordert und fördert auch die Europäische Union“, so die Ministerin.

So lange, bis sich an der Lage in Ländern wie Serbien und Mazedonien etwas ändern wird, kann Marco Rohler nicht warten. Der 41-Jährige lässt sich von dem Andrang nicht aus der Ruhe bringen, polyglott scherzt er sich durch die Flure. Zwischen 40 und 50 Flüchtlinge arbeiten in der AfA, jeden Montag zwischen 10 und 11 Uhr ist Bewerbertag. Die Menschen arbeiten in der Bettwäscheausgabe oder beim Reinigen der Außenanlagen, oder sie fungieren als Dolmetscher. Dafür gibt es 1,50 Euro die Stunde. „Die Warteliste ist lang“, berichtet Rohler, und es gibt viel zu tun. Allein 20 Kubikmeter Bettwäsche fallen derzeit jede Woche an.  Rohler wird damit fertig, auch wenn er einräumt, dass die Menge im Moment enorm sei. Eileen Becker vom Multikulturellen Zentrum warnt unterdessen vor einer „Dramatisierung der aktuellen Lage durch Politiker und Medien“. Für sie ist klar: „Dass ein Land wie Deutschland mit der steigenden Zahl von Flüchtlingen überfordert zu sein scheint, ist nicht zuletzt auf Versäumnisse der Behörden zurückzuführen.“

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