„Man sieht die Mädchen nicht mehr“

Über Jahrzehnte war das Geschäft mit der Sexualität das Alleinstellungsmerkmal der Karl-Marx-Straße. Während zwischen den Sexshops, Pornokinos und Bordellen immer stärker auch junge Kulturschaffende das Viertel für sich entdecken, fühlen sich manche der Alteingesessenen in ihrer Existenzgrundlage zunehmend bedroht: Das Internet hat dem Erotikgewerbe einen empfindlichen Schlag versetzt, mit On-Demand-Pornographie und Versandhandel können die meisten Händler nicht mithalten. 16vor-Mitarbeiterin Kathrin Schug und der Fotograf Calin Kruse trafen Menschen, die vondem Geschäft mit der Lust leben. Ein Stimmungsbild aus dem Rotlichtmilieu.

TRIER. Es muss ein findiger Stadtplaner gewesen sein, der die Bürgersteige von Karl-Marx- und Bollwerkstraße einst so ineinander laufen ließ, dass sie aussehen wie der Bug eines Schiffes. Abgesehen davon erinnert nur noch der maritim klingende Name des Bordells „Hafenmelodie“ daran, dass einen Steinwurf entfernt einst die Schiffe an der Mosel anlegten. Heute sind von dem Hafentreiben vergangener Tage nur noch die Begleiterscheinungen präsent: Prostitution, Alkoholeskapaden und Polizeieinsätze. Mancher Besucher schüttelt den Kopf darüber, welch unrühmliche Straße man mit dem Namen des berühmtesten Sohnes der Stadt bedacht hat. Unter den Bewohnern der Stadt firmiert die Straße allerdings als eine der lebhafteren im sonst so beschaulichen Trier. Das Bild von der „letzten lebendigen Straße Triers“ findet man auch bei denen, die hier leben und arbeiten. Gleichzeitig sind sie es, die diese Vorstellung relativieren: Im Vergleich zu früher, sagen manche, sei es heute regelrecht ausgestorben. Mit dem Wandel der Prostitution und dem Siegeszug des Internets hat sich für viele, die in der Karl-Marx-Straße ihr Geld verdienen, die Geschäftsgrundlage geändert.

In stolzen, kursiven Großbuchstaben wirbt „Elfis Erotik-Shop“ für sein Sortiment. Die wechselnde Auslage zieht von der Gummipuppe bis zum XXL-Dildo alle Register des Sex-Zubehörs und verlockt regelmäßig schaulustige Besucher zum Verweilen. Ein Laden, der das Vorurteil Lügen straft, dass Sexshops schummrig-verschämte Kaschemmen sein müssen. Auch, wenn die Frau, in deren Händen die Geschicke des Geschäfts liegen, dafür nicht mit ihrem eigenen Namen bürgt: Elisabeth Sersch-Lehnert übernahm 1990 den Erotik-Shop von ihrer Vorgängerin Elfi, die seit den späten 70ern Erotikwaren verkaufte. „Damals war die Straße noch sehr viel lebhafter“, erinnert sich Sersch-Lehnert. „Es gab nicht nur mehr Bars, sondern auch einen Metzger und Lebensmittelgeschäfte, diese Infrastruktur ist heute völlig weggebrochen.“ Sie übernahm das Geschäft zu einer Zeit, in der nicht nur das Leben in der Karl-Marx-Straße noch pulsierte, sondern auch die Vorzeichen für das Geldverdienen mit Sexartikeln andere waren. Das Internet steckte damals noch in Kinderschuhen. Wer erotische Artikel kaufen wollte, für den führte kaum ein Weg am Betreten von Sexshops vorbei. Heute floriert der Erotikmarkt online: On-Demand-Pornographie ist nur einen Mausklick entfernt, Online-Erotikshops können ein ungleich größeres und ausdifferenziertes Sortiment anbieten als ein kleines Ladenlokal in Trier.

Vermehrt Frauen unter der Kundschaft

So ist die Entwicklung, die auch an „Elfis Erotik-Shop“ nicht spurlos vorbeigegangen ist. „Es sind weniger Kunden, die zu uns kommen“, sagt Elisabeth Sersch-Lehnert. Und bei denjenigen, die kommen, ist sie selbst als erfahrene Beraterin manchmal überfragt. „Bei sehr speziellen Vorlieben kommt es heute manchmal vor, dass ich passen muss“, räumt sie ein. Verteufeln will sie diese Entwicklung trotzdem nicht; man versucht, sich anzupassen. Das Sortiment wurde mit den Jahren entsprechend verändert, erotische Magazine sind mit den Jahren fast völlig aus den Regalen verschwunden, mit Pornofilmen arbeitet man kaum noch: „Die kann man im Internet für drei Euro kaufen oder gleich umsonst anschauen, damit können wir nicht konkurrieren.“ Stattdessen liegt der Schwerpunkt nun auf Kleidern, Schuhen und Sexspielzeugen. Dementsprechend sind es auch vermehrt Frauen, die in den Erotikshop kommen. „Mit fällt auf, dass die Kunden – und vor allem die Frauen – heute sehr viel offener darüber reden können, was sie wollen. Man kommuniziert eher auf Augenhöhe als noch vor einigen Jahren“, sagt Sersch-Lehnert mit einem Lächeln. Sie gibt sich Mühe, die guten Seiten zu sehen.

Wenn in den Geschäften die Lichter ausgeschaltet werden, fängt in anderen Etablissements der Straße der Arbeitsalltag erst an. In der Bar „Herzdame“ sitzen drei Frauen unter dem blauen Flackerlicht eines Fernsehers, der über der Theke angebracht ist, die fast den gesamten Raum der früheren Kneipe „Zartbitter“ einnimmt. Während Dieter Bohlen auf dem Bildschirm leichtbekleidete Mädchen vor sich antreten lässt, warten die Frauen auf Freier. „Ist Ihnen die Madonnen-Figur aufgefallen, die draußen in die Hauswand eingelassen ist?“, fragt Liane. „Passt gut, nicht wahr?“. Sie lacht und zieht an ihrer Zigarette, ihren richtigen Namen will sie nicht in einem Artikel lesen. Mit ihren 74 Jahren ist die gebürtige Triererin in der Stadt verwurzelt, und sie weiß, wenn es um „solche Sachen“ geht, wie engstirnig die katholische Stadt sein kann. „Hätte mir früher jemand erzählt, dass ich einmal hier sitzen würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt“, sagt sie.

Ihr Leben lang hatte sie als Putzfrau gearbeitet, als sie in Rente ging und dachte, von nun an würde sie sich nur noch um ihre Enkelschar kümmern, sprach eine Bekannte sie an. Ob sie nicht Lust hätte, in einem ganz bestimmten Laden an der Theke zu arbeiten. So kam eins zum anderen. „Anfangs wusste ich gar nicht, dass es für Frauen meines Alters eine Nachfrage gibt, heute sehe ich das praktisch: Für das Geld müsste eine alte Frau wie ich lange putzen gehen.“ Sie redet laut, um den Ton des Fernsehers zu übertönen. Später, als sie zwei benutzte Gläser abspült, sagt sie leise, ohne den Blick vom Spülbecken zu heben: „Manchmal verliert man den Glauben an die Menschen“, und erzählt von ihrem ersten Arbeitstag. „Als ich danach die Straße zur Bushaltestelle entlang lief, konnte ich den Männern nicht ins Gesicht sehen, die mir entgegen kamen. Ich musste die ganze Zeit an meinen Vater, meinen Mann, meinen Bruder denken – das konnte doch nicht gleiche Art von Männern sein.“

Distanz zur Schmuddelecke

Die Entwicklung der Karl-Marx-Straße beobachtet sie schon seit Jahren. Sie gerät ins Schwelgen, wenn sie von früher erzählt. „Die Mädchen haben dort nach Feierabend noch ein Bier getrunken, man kam miteinander ins Gespräch“, erzählt sie, „es war alles offener als heute, durchlässiger.“ Heute hätten die schwarz arbeitenden Prostituierten in Privatwohnungen nicht nur die Preise ruiniert, beklagt sie, sondern auch dafür gesorgt, dass das Geschäft mit der Lust aus dem Straßenbild verschwunden sei. „Man sieht die Mädchen nicht mehr“, sagt Liane, „aber Sie können in fast jedem Haus dieser Straße davon ausgehen, dass Sie dort eine Prostituierte finden.“

Während die Casting-Show sich ihrem Ende zuneigt, werden ein paar Häuser weiter die letzten Vorbereitungen für die Nacht getroffen. Immer wieder öffnet sich die Tür des Tabledance-Clubs „007“, mit der kalten Abendluft kommen Mädchen mit müden Gesichtern unter neonbunten Kapuzen herein. „Guten Morgen, gut geschlafen?“, ruft der Mann hinter der Theke ihnen zu. Sie murmeln etwas zurück und verschwinden hinter einer Tür, die ähnlich funktioniert wie einst Marijke Amados Wunderkugel in der „Mini Playback Show“. Hinein gehen müde, unscheinbare Mädchen. Heraus kommen sie geschminkt und frisiert, gerade spärlich genug bekleidet, dass noch etwas zum Ausziehen da ist.

Vor vier Monaten hat der 42-jährige Dem Berisha den „Gentlemen’s Club“ eröffnet, wie er ihn bewirbt und wie er ihn verstanden wissen will: Er gibt sich Mühe, größtmögliche Distanz zu allem herzustellen, was mit Schmuddelecke zu tun hat, bei gleichzeitiger Vermarktung erotischer Lust – eine Gratwanderung. Mit dem „7th Heaven“ am Viehmarkt eröffnete er einst die erste Tabledance-Bar der Stadt. Seitdem weiß er, wie es sich anfühlt, wenn man Triers konservative Schlagseite abbekommt. „Hier denken manche immer noch, Tabledance sei gleichbedeutend mit einem Bordell“, beklagt er. „Dabei haben wir nichts damit zu tun“. Noch ist es leer in der Bar, Hochbetrieb setzt für gewöhnlich erst in den Nachtstunden ein. Die Tänzerinnen tragen Lippenstift nach, trinken Kaffee, rauchen Zigaretten und scherzen auf Ungarisch miteinander. Sofie, die Zierlichste von allen, tanzt sich warm. „Knie gerade, Sofie“, ruft Berisha von der Theke, und setzt lachend hinzu: „Das machst du immer falsch.“

„Wie mit einem guten Steak“

Dem Berisha ist schon seit seiner Jugend im Tabledance-Gewerbe, für einen Umzug in die Karl-Marx-Straße hat er sich bewusst entschieden. „Die Umgebung hat ein gewisses Flair, einen Ruf. Ich würde mir wünschen, dass es noch mehr Bars gäbe und es abends lebhafter wäre.“ Auch seine Geschäftsgrundlage war in den letzten Jahren tiefgreifenden Veränderungen unterworfen. „Natürlich kann man sich tanzende Mädchen im Internet ansehen“, sagt er, ohne in Online-Angeboten eine Konkurrenz sehen zu wollen. „Es ist wie mit einem guten Steak. Auch das kann man sich zu Hause selbst zubereiten. Es wird aber nie das gleiche sein, wie das Essen in einem guten Restaurant zu zelebrieren.“ Gegen neun Uhr kommt der erste Gast herein. Ein älterer Mann, rundlich, mit wenigen Haaren. Unsicher lässt er sich zu einem Tisch geleiten und bestellt ein Mineralwasser. Sofie beginnt zu tanzen.

Am nächsten Morgen steht Bernd Schu hinter der Theke seines Friseursalons am Ende der Karl-Marx-Straße und wartet auf Kundschaft. Es riecht nach Haarspray und kaltem Rauch, auf der Heizung steht ein Aschenbecher. Durch sein Schaufenster blickt er auf die Straße, auf dem Bürgersteig liegen Glasscherben, daneben gefrorene Pfützen aus Erbrochenem. Seit zwanzig Jahren beobachtet er, wie sich das Leben in der Straße entwickelt. „Ich fühle mich hier wohl“ sagt er, und schickt im gleichen Atemzug ein „Obwohl“ hinterher: Obwohl es vorkommt, dass Betrunkene in seinen Laden fallen. Obwohl kaum ein Wochenende ohne Polizeieinsatz vergeht. Obwohl er schonmal ein Tütchen mit Kokain unter seiner Fußmatte gefunden hat.

Ende der Achtzigerjahre mietete der Friseur sich in der Straße ein, die schon damals in „charmantem Verruf“ stand, wie er sich ausdrückt. Seit einigen Jahren drohe der Verruf allerdings den Charme zu überwiegen. Er beobachtet, wie im Monatsryhthmus die Umzugswagen gegenüber parken. „Hier hält es kaum jemand lange aus, ich würde auch nicht hier wohnen wollen“, sagt er. In seinen Augen liegt der Hauptgrund dafür in Sichtweite auf der anderen Straßenseite. Das 24-Stunden-Lokal „Café an der Brück“ ist regelmäßig Auslöser für Polizeieinsätze und Anwohnerbeschwerden. Dem Vernehmen nach sollen im Sommer seine Tage gezählt sein. Eine Möglichkeit, der Bernd Schu mit Hoffnung entgegen blickt. „Dann könnte sich hier endlich etwas Neues ansiedeln. Ich bin sicher, der Straße würde das gut tun“, erklärt er und verweist auf die jungen Kunstschaffenden, die sich seit einiger Zeit in der Straße behaupten. Er ist der Meinung, dass Rotlicht und Kultur sich nicht ausschließen müssen. „Ich würde der Straße wünschen, dass sich in dieser Hinsicht wieder etwas verändert – sie hat es verdient.“

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