„Kinder leiden in allen Schichten“

Für viele Eltern ist die Geburt eines Kindes die Krönung des Lebensglücks. Doch immer mehr Familien machen auch die Erfahrung, dass Wunschvorstellung und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen können. Eine gefährliche Lage für Eltern und Kinder, warnen Ärzte. Denn wo Überforderung grassiert, wächst das Risiko für Misshandlung und Vernachlässigung. Das Trierer Klinikum Mutterhaus war vor sechs Jahren Modellklinik für das Kinderschutzprogramm „Guter Start ins Kinderleben“, das gefährdete Neugeborene frühzeitig erkennen und schützen soll. Mit finanzieller Unterstützung des Landes Rheinland-Pfalz wird das Programm jetzt auf ältere Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre ausgedehnt.

TRIER. Daniela hatte sich gefreut auf ihr erstes Kind. Während der Schwangerschaft hatte sie das Kinderzimmer eingerichtet, Kleidung für das Mädchen gekauft und Ratgeber gelesen. „Aber vor allem stellte ich mir natürlich immer vor, wie das sein würde, wenn dieser kleine Mensch endlich da wäre“, sagt sie. „Ich wollte so gerne alles richtig machen.“ Als das Kind auf der Welt war, musste sie ihre Vorstellungen schnell korrigieren: Ihre Tochter war ein sogenanntes Schreikind: „In meiner Erinnerung hat sie ununterbrochen geschrien, Tag und Nacht, sie war durch nichts zu beruhigen und ich konnte mir nicht erklären, was ihr fehlte.“ Es dauerte nur wenige Wochen, bis dann passierte, was die Alleinerziehende sich nicht hätte vorstellen können: „Ich wurde depressiv. Der ständige Schlafmangel, das Schreien, der Stress, die Ungewissheit – am Ende hatte ich sogar Angst, ich könnte in einem Anfall von Aggression meinem Kind etwas antun.“

Glaubt man Irene Alt, rheinland-pfälzische Ministerin für Integration, Familie, Kinder, Jugend und Frauen, dann ist Danielas Geschichte kein Einzelfall. „Die Diskrepanz, die sich zwischen dem erwarteten Glück der Elternschaft und der Realität nach der Geburt auftut, kann beträchtlich sein. Es ist eine schöne, aber auch schwierige Zeit“. Wenn Eltern die Nerven verlieren, sind ihre Kinder einem erhöhten Risiko der Misshandlung und Vernachlässigung ausgesetzt. Rund die Hälfte aller Minderjährigen werde Opfer von minderschweren Misshandlungen, ein Prozent leide unter schwer wiegenden Misshandlungen. Dabei handelt es sich keineswegs um ein Phänomen sozialer Randgruppen, betont die Ministerin. „Quer durch alle sozialen Schichten leiden Kinder unter Vernachlässigung und Misshandlung, während der Grund immer der gleiche ist: latente oder akute Überforderung der Eltern.“

Um dieser Überforderung präventiv entgegenzuwirken, wurde 2006 das bundesweite Kinderschutzprogramm „Guter Start ins Kinderleben“ an Geburtskliniken ins Leben gerufen. Ein breites Bündnis aus sozialen Einrichtungen soll gefährdete Kinder frühzeitig erkennen und ansetzen, bevor es zu Misshandlungen kommt. Mit niedrigschwelligen Angeboten von Jugendamt, Kindersozialdienst und Pflegedienstleitung sollen Wege aus der Überforderung aufgezeigt werden, von der Hilfe bei der Beantragung von Wohngeld bis hin zu psychologischer Beratung. Hatte das Programm bislang nur die Neugeborenen im Blick, wird es ab sofort – mit finanzieller Unterstützung des Landes – auf ältere Kinder und Jugendliche bis 18 Jahre ausgedehnt. Das Klinikum Mutterhaus der Borromäerinnen nimmt dabei erneut eine Modellfunktion ein. Das Programm, das ab diesem Jahr in das Standardprogramm des Krankenhauses eingegliedert wird, soll in den nächsten Jahren flächendeckend in Rheinland-Pfalz eingeführt werden, so Ministerin Alt.

Die Träger des Projektes sind sich einig, dass die Ausweitung des Angebots über das Säuglingsalter hinaus eine notwendige Konsequenz war. „Die Kindeswohlgefährdung hört nicht mit einfach mit einem bestimmten Alter auf“, erklärt Gabi Holstein vom Kindersozialdienst der Villa Kunterbunt. Sie erzählt von einer 15-jährigen Patientin, die wiederholt mit starken Bauchschmerzen in das Klinikum überwiesen wurde, ohne dass man eine organische Ursache diagnostizieren konnte. „Mit der Zeit fiel den Stationsschwestern auf, dass sie nur sehr selten Besuch bekam“, erzählt Holstein „Und wenn die Eltern einmal da waren, nahmen sie eine sehr entfremdete Atmosphäre war.“ Den Schwestern vertraute das Mädchen schließlich an, dass es am liebsten überhaupt nicht entlassen würde, um nicht zurück nach Hause zu müssen.

In Fällen wie diesen greift nun die neu geschaffene Infrastruktur. Mit einem speziell entwickelten Fragebogen werden mögliche Belastungen und Risiken in der Familie abgefragt. Dieser Screening-Bogen fragt nach der Anzahl der Kinder in einer Familie, psychische Erkrankungen der Eltern und sozialer Isolation, aber erhebt auch beobachtbare Auffälligkeiten im Miteinander von Eltern und Kind, wie Desinteresse oder Aggression.

Liefert der Test ein entsprechendes Ergebnis, suchen Mitarbeiter der beteiligten Einrichtungen das Gespräch mit den Eltern. „Wir legen Wert darauf, dass hier niemandem etwas aufgezwungen wird. Alle unsere Angebote sind freiwillig und werden gemeinsam besprochen“, betont Christel Kallies, Pflegedienstleitung am Mutterhaus. Es ist ein schmaler Grat zwischen dem Zugeständnis, dass die Kindeserziehung zwar Aufgabe der Eltern ist, und dem Anspruch, dass die Gesellschaft dabei unterstützend tätig werden sollte. Der Zuspruch, den das Angebot in den letzten Jahren von betroffenen Eltern erhalten hat, spricht allerdings eine deutliche Sprache: „Auch deshalb, weil die Angebote sehr praktischer Natur sind, werden sie gerne als Hilfen angenommen.“ Die Resonanz der angesprochenen Familien sei sehr positiv. 76 Familien wurde in den letzten zwei Jahren in diesem Rahmen betreut. Tendenz: steigend. Finanziert wird das Projekt mit einem Budget von 30.000 Euro, jeweils hälftig von Mutterhaus und Ministerium.

Im Fall der 15-Jährigen stellte sich heraus, dass zu Hause zwei weitere Geschwister waren, eines davon Neugeborenes – und Schreikind. „Sie musste sich um das Kind kümmern und Verantwortung übernehmen in einem Maße, dass sie nicht mehr dazu kam, ihre Hausaufgaben zu erledigen oder sich mit Gleichaltrigen zu treffen“, erinnert sich Holstein. Durch das institutionen-übergreifende Programm konnte allen Mitgliedern der Familie passende Angebote gemacht werden: Die Mutter lernte in der Schrei-Ambulanz Strategien im Umgang mit ihrem Kleinkind, die Tochter konnte psychologisch beraten werden, generell konnte man die Familie bei Behördengängen und Formalitäten entlasten.

Für die verantwortlichen Ärzte am Mutterhaus ist das dichte Netz aus sozialen Einrichtungen ein Segen. „Manchmal muss man einen jungen Patienten entlassen, weil keine organische Ursache feststellbar ist“, erklärt Professor Wolfgang Rauh, Chefarzt der Kinder- und Jugendmedizin. „Obwohl man dabei ein schlechtes Bauchgefühl hat und spürt, dass etwas nicht in Ordnung ist.“ Mit der Möglichkeit, die Patienten im Kindersozialdienst nachversorgt zu wissen, beruhigt auch die Kinderchirurgin Dr. Monika Krause. „Dass die Weiterbehandlung in einem solchen Maße aufgefangen wird, kenne ich von keinem meiner früheren Krankenhäuser“, und verweist auch auf die Kostenseite: Die Beträge, die man in Prävention investiere, spare man vielfach in späteren Behandlung.

Rauh ist seit mehr als dreißig Jahren in der Kindermedizin tätig. Wenn man ihn fragt, ob sich bezüglich des Auftretens von Kindesmisshandlung ein Trend abzeichnet, antwortet er vorsichtig und betont, dass seine Einschätzungen – mangels verlässlicher Statistiken – subjektiver Natur seien. „Aber insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Überforderung von Eltern zunimmt. Ich vermute stark, dass diese Zunahme sehr viel mit dem Wegfall traditioneller Familiensysteme zu tun hat. In vielen Fällen gibt es vor Ort keine Großeltern oder nahe Verwandte mehr, die entlastend eingreifen könnten.“ Dorothee Wassermann, stellvertretende Leiterin des Trierer Jugendamtes, sieht außerdem in den gestiegenen Erwartungen an Eltern Risiken für Überforderung: „Es sind ganz andere Herausforderungen zu meistern als noch vor einigen Jahren. Ich sage nur: Vereinbarkeit von Beruf und Familie.“

Daniela M. hat mittlerweile eine „normale, liebevolle“ Beziehung zu ihrem Kind, heute weiß sie, dass eine nicht erkannte Darmerkrankung der Grund für die Unruhe ihrer Tochter war. „Ohne die Hilfe meiner Eltern“, sagt sie, „weiß ich nicht, wie ich diese Zeit hätte überstehen sollen“. Ein Angebot wie die Schrei-Ambulanz hätte die Mutter damals dankbar in Anspruch genommen. „Mich hätte es schon entlastet, mit jemandem über meine Gefühle sprechen zu können. Diese Tabuisierung negativer Gefühle als Mutter eines gesunden Kindes war fast noch schlimmer als das ständige Schreien“, erinnert sie sich. „Ich habe es als enormen Druck empfunden, immer so tun zu müssen, als sei ich glücklich. Aber ganz ehrlich: Ich war es nicht.“

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