„Je mehr man gibt, umso besser fühlt man sich“

In Deutschland hat wohl niemand mehr als Wladimir Kaminer dazu beigetragen, das Bild vom „Russen“, das mancher noch aus Erzählungen eines Weltkriegsteilnehmers in der Familie hatte, zurechtzurücken. Der Schriftsteller, der 1990 von Moskau nach Berlin zog, kämpft mit seinen lustigen Geschichten gegen Vorurteile und Klischees, die seinen Landsleuten anhängen. Die Protagonisten stammen meist aus seinem familiären Umfeld, was man bereits an den Titeln seiner Bücher erkennen kann („Ich mache mir Sorgen, Mama“, „Salve Papa!“, „Meine kaukasische Schwiegermutter“). Noch mehr Spaß, als seine Texte zu lesen, macht es, sie von ihm zu hören. Dazu besteht heute um 20 Uhr Gelegenheit in der Tufa, wo er aus „Onkel Wanja kommt“ und unveröffentlichte Geschichten vorlesen wird. Mit 16vor sprach Kaminer aufrichtig und ausführlich unter anderem über seine Bewältigung von Weltschmerz, über „Pussy Riot“ und darüber, warum eine politische Wende in Russland bislang hat auf sich warten lassen.

16vor: In Ihren Geschichten hat man den Eindruck, dass Sie keine menschlichen Schwächen oder Misstände überraschen oder erschüttern können. Gibt es etwas, bei dem Sie Ihre Gelassenheit verlieren, oder dass Sie am Menschen verzweifeln lässt?

Wladimir Kaminer (überlegt lange und lacht): Das ist eine komplizierte Frage (wieder ernst). Eigentlich komme ich aus der Verzweiflung überhaupt nicht raus. Ich bin ein Tragiker. Ich finde, das Leben ist eine Tragödie. Aber es wäre falsch, nur zu weinen. Das ist eine Sackgasse. Deswegen muss man lernen – ich versuche das durch mein Schreiben -, über die Tragödie des Lebens zu lachen. Nur so kommt man weiter.

16vor: Es sind also weniger Ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus Moskau, die Sie dazu befähigt haben, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen, sondern es ist mehr Ihr Humor, der Ihnen hilft, die Welt zu ertragen?

Kaminer: Meine Kindheit und Jugend in der Sowjetunion haben mir in erster Linie beigebracht, wie vergänglich, wie zart und zerbrechlich unsere Realität ist. Ich weiß, dass große Imperien sehr schnell fallen können. Und Menschen werden oft Opfer ihrer eigenen Einbildung. Deshalb versuche ich, mich vorsichtig in einer mir unbekannten Welt vorzutasten, ohne zu glauben, ich würde über sie Bescheid wissen. Für jeden Schreiber ist es am wichtigsten, die Neugier nicht zu verlieren. In dem Moment, wo man glaubt, über die Welt Bescheid zu wissen, wird man zu einem Langweiler. Wir leben in einer sich sehr schnell verändernden Welt. Wenn man lernt, mit dieser Welt richtig umzugehen, sie zu bestaunen, dann wird es einem nie langweilig. Es kommen immer neue Geschichten, die es sich lohnt aufzuschreiben.

16vor: In Ihren Büchern dreht es sich hauptsächlich um Ereignisse in Ihrer Familie oder Ihrem sonstigen privaten Umfeld. Hat Sie der „Pussy Riot“-Fall interessiert?

Kaminer: Ich habe viele Statements zu dem Prozess und diesem unsäglichen Urteil abgegeben. Aber ich sehe diese großen politischen Ereignisse durch das Prisma des Privaten. Letztenendes ist das Problem des Landes nichts anderes als das Problem jedes einzelnen Bürgers. Das, was in Russland passiert ist in den letzten 80, 90 Jahren, ist eine Last, die jeder zu tragen hat. Ich glaube nicht, dass dieses Problem durch irgendeinen Regierungschef gelöst werden kann. Das haben die Russen in den 90er Jahren gedacht, dass sie irgendjemand von ihrer Vergangenheit erlöst. Aber das hat nicht funktioniert.

Wir waren gerade in Amerika – ich bin erst seit ein paar Tagen zurück. Die Amerikaner schauen wie hypnotisiert auf den Wahlkampf, obwohl es gar nicht darum geht, wie der nächste Präsident heißen wird. Es geht um das Selbstbewusstsein des Volkes, darum, was der Amerikaner in dieser Welt sein will. Will er dazugehören oder seinen eigenen Pfad einschlagen? Das ist das Problem dort, das auch nicht durch eine Präsidentschaft gelöst werden wird.

„‚Pussy Riot‘ haben mehr Politik gemacht als das ganze russische Parlament in den letzten zehn Jahren“

16vor: Wie beurteilen Sie die Aktionen von „Pussy Riot“?

Kaminer: Das sind Menschen, die sich nicht so sehr darum bemühen, tolle Musik oder eine intelligente künstlerische Aussage an die Gesellschaft zu machen. Das sind junge Leute, die politisch sehr engagiert sind. Weil in Russland keine Politik im öffentlichen Raum stattfindet, sondern nur hinter geschlossenen Türen, versuchen sie mit einer Geste des Widerstandes das Politische in den öffentlichen Raum zu tragen. Was ihnen auch sehr gut gelungen ist. Viel besser als jeder Putinschen Regierung. Ich glaube, dass „Pussy Riot“ mehr Politik gemacht haben als das ganze russische Parlament in den letzten zehn Jahren.

Es ist aber nicht nur am Beispiel von „Pussy Riot“ sichtbar, dass die Kunst immer mehr zu einem Politikum wird. Es gibt kaum noch Maler, die Bilder produzieren, die man sich kaufen und bei sich zuhause an die Wand hängen kann. Es entwickelt sich in Richtung Performance, in Richtung einer öffentlichen Aussage.

16vor: Wenn Sie sich beispielsweise öffentlich zur Verurteilung von „Pussy Riot“ äußern, glauben Sie, das nimmt man in Russland wahr?

Kaminer: Das kann ich schwer beurteilen. Grundsätzlich nimmt man mich schon in Russland wahr. Ich hatte dort in diesem Jahr ein paar Auftritte, und es waren sehr viele Medien und sehr viele Menschen anwesend. Aber zu „Pussy Riot“ hat sich kaum jemand nicht mehrmals geäußert, weshalb ich nicht denke, dass meine Stimme eine besondere Rolle spielte. Ich habe meine Statements zu „Pussy Riot“ vor allem gegenüber der internationalen Presse abgegeben. Durch Zufall war ich an dem Tag gerade in St. Petersburg, als das Urteil fiel. Das ZDF suchte mich dort auf, und ich habe ein russisches Fernsehteam bekommen, um diese Statements abzugeben. Als wir mit dem Dreh fertig waren, fragten mich die russischen Kollegen, was ich wirklich darüber denke. Ich war verblüfft und sagte: „Was kann man hier anders denken? Drei Mädchen haben eine halbe Minute ein Lied gesungen und dafür zwei Jahre Knast bekommen. Welche andere Meinung kann es da noch geben?“ Sie meinten aber, dass die Werte, um die da gekämpft würden, für Russland ohne Bedeutung seien. Wer wolle diese Freiheit? Den ganzen Tag war dieses russische Filmteam unterwegs im Auftrag von ausländischen Medien, um die Protestdemos zu filmen, wo Menschen auf die Straße gingen, um ihre Unterstützung für „Pussy Riot“ zu äußern. Sie sagten zu mir: „Es waren eigentlich nur Schwule, Minderjährige und Rechtsanwälte, die sich für das Thema Freiheit interessierten. Alle anderen sind zuhause geblieben.“ Bei den Homosexuellen sei das ganz logisch, weil sie unterdrückt würden, Minderjährige fänden Freiheit immer gut, und die Rechtsanwälte hätten jedem eine Visitenkarte in die Hand gedrückt, um sie vor Gericht zu verteidigen. Das war eine große Aussichtslosigkeit, die in diesen Aussagen durchsickerte.

16vor: Wir ist Ihr Eindruck: Will die Mehrheit kein anderes Russland als das, das es jetzt hat?

Kaminer: Ich glaube, dass die Mehrheit natürlich ein anderes Russland will. Sie hat jedoch den Glauben verloren, aus eigener Kraft etwas ändern zu können. Sie sind alle unzufrieden mit der Situation dort. Alle haben mir immer gesagt, dass sie keine Putin-Freunde seien. Sie sind gegen den heutigen Stand der Dinge, aber sie glauben nicht, dass man etwas verändern kann. Das Nein-Sagen allein hilft aber nichts. Man darf nicht nur gegen etwas sein, man muss auch für etwas sein und sich dafür auch einsetzen. Dieser Wille ist nicht vorhanden. Was auch verständlich ist. Wenn man 70 Jahre lang mit einem Panzer über ein Volk hin- und herfährt, ist das nicht zu erwarten, dass die Menschen plötzlich ein Selbstbewusstsein entwickeln.

16vor: Ist denn in den vergangenen 22 Jahren, die Sie jetzt in Deutschland leben, der Widerstand dort gewachsen oder eine Minderheit geblieben?

Kaminer: Leute, die protestieren und auf die Straße gehen, sind in jedem Land eine Minderheit. Es wäre absurd zu erwarten, dass die ganze Bevölkerung auf die Straße geht. Aber die Minderheiten entscheiden solche Schlachten. 1917 war das auch keine Mehrheit, die sich für die Revolution entschieden hatte. Das war eine verschwindend kleine Minderheit.

Das ist heute eine neue Erfahrung für die Russen. Als im Winter Hunderttausende auf die Straße gingen, waren die Oppositionellen von diesem Erfolg berauscht. Die Regierung hatte große Angst bekommen. Sie hatte damit nicht gerechnet. Als dann zwei Monate später nur noch die Hälfte auf die Straße ging, hieß es: „Die Revolution ist zu Ende, wir sind verloren für immer und ewig“. Was natürlich Quatsch ist.

Ich beobachte mit großer Aufmerksamkeit diese schleichende Revolution in meiner Heimat. Ich bin  zuversichtlich, dass sie sich früher oder später zum Guten verändern wird. Man sieht es in der ganzen Menschheitsgeschichte, dass alle Schurken früher oder später abtreten.

„Durch literarisches Schaffen kann man viel mehr erreichen als in einem politischen Amt“

16vor: Können Sie sich vorstellen, wie Vitali Klitschko in der Ukraine in Russland politisch tätig zu werden?

Kaminer: Ich habe nicht die russische Staatsangehörigkeit. Zudem bin ich weder Boxer noch Politiker. Ich glaube auch, dass man durch literarisches Schaffen, durch die Fortsetzung des Gesprächs, viel mehr erreichen kann als in einem politischen Amt. Die Politik hat viel mehr mit Bürokratie als mit der Gestaltung der Welt zu tun. Die Menschen in Russland müssen wie hier in Deutschland ein bürgerliches Gefühl entwickeln, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Solidarität miteinander. Aber solange sie selbst nichts tun und nur auf die Regierung schauen, wird dieses Land weiter in der Vergangenheit leben.

16vor: Das könnte noch ein paar Generationen dauern…

Kaminer: Wer weiß, wer weiß… Ich glaube das nicht. Ich denke, dass das in den nächsten Jahren entschieden wird.

Es ist aber auch eine Frage der Erziehung. Früher hat man viel über die sowjetische Mentalität geschimpft. Jetzt gibt es schon eine Generation, die nicht in der Sowjetunion gelebt hat. Sie hat aber diese sowjetische Mentalität von den Eltern vererbt bekommen und hält – gerade weil sie sie nie erlebt hat – die Sowjetunion für absolute Spitze, für die beste Zeit des Landes.

16vor: Das macht eine Revolution aber noch schwieriger.

Kaminer: Es sind nicht alle so. Dadurch, dass die Russen seit 20 Jahren Reisefreiheit genießen – inzwischen sind 25 Millionen Reisepässe vergeben, zu Sowjetzeiten waren es noch 2000 -, haben sie die Welt gesehen und mehr Chancen, über diese Mauer in den Köpfen hinüberzuspringen.

16vor: Wenn Sie nicht Politiker werden möchten, was ist aus Ihrem Wunsch geworden, den Sie vor Jahren mal in einem Interview äußerten, eine Karriere als Rockmusiker zu starten?

Kaminer: Ich denke noch immer daran. Meine Idee ist, eine Rapband für ältere Menschen zu gründen. Alten-Rap zu machen, wo man sich statt anzugeben beschweren kann über das Leben im Allgemeinen. Ich bin noch auf dem Weg dahin. Erst einmal trete ich in Berlin in einer Oper auf, die auf der Basis von Prokofjews Filmmusik zu Eisensteins „Iwan der Schreckliche“ gemacht wird. Ich beginne mit klassischer Musik, und wenn ich rentenreif bin, mache ich die Rapband.

16vor: In der Oper geht also mal nicht um Ihre Familie?

Kaminer: Nein, es geht um die Politik von damals und heute. Wie ich schon sagte: Die Kunst wird immer politischer.

16vor: Wie findet das Ihre Familie, wenn Sie über sie schreiben?

Kaminer: Ich frage natürlich immer nach deren Erlaubnis. Bei der Familie als kleinste Zelle der Gesellschaft kann man sehr gut die großen Probleme finden und nach deren Lösungen suchen. Deshalb habe ich die Familie immer vor Augen, und darum ist sie auch ein sehr willkommenes Sujet zum Schreiben.

16vor: Sie leben seit 1990 in Deutschland. Haben Sie schon typisch deutsche Eigenschaften übernommen?

Kaminer: Ich bin zur Hälfte typisch deutsch und zur Hälfte typisch russisch. Außerdem ist Deutschland ein ganz anderes Land geworden. Dadurch, dass es sich ständig verändert, und ich mich als Mensch auch verändere, fällt dieses Deutschtum nicht so auf.

16vor: Sind Sie ein sparsamer Mensch oder geben Sie gerne Geld aus?

Kaminer: Ich bin ein verschwenderischer Mensch. Ich gebe sehr gerne Geld aus für andere Menschen und für Pflanzen. Wir haben einen Garten in Brandenburg, dort ist alles voller Pflanzen. Hier in Berlin spende ich Bäume für den Mauerpark, für den Falkplatz, für meine Umgebung. Ich unterstütze natürlich auch die Menschen um mich herum. Ich finde, Sparsamkeit ist nicht angebracht. Je mehr man gibt, umso besser fühlt man sich. Das ist zumindest bei mir so.

16vor: Können Sie sich vorstellen, irgendwann einmal dauerhaft nach Moskau zurückzukehren?

Kaminer: Nein. Ich glaube auch nicht, dass es so etwas wie einen Rückweg gibt. Das Leben ist eine Einbahnstraße, man kann nicht zurückfahren. Es geht nur vorwärts.

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