„Ich will wissen, ob ich die Hundert schaffe“

Alter, Tod und Sterben sind keine Themen, die sich im gesamtgesellschaftlichen Diskurs besonderer Beliebtheit erfreuen. Wenn sie zur Sprache kommen, geht es meist um ihre negativen Schlagseiten: demografischer Wandel, Zusammenbruch der Sozialsysteme, Altersarmut. Um Studierende zu ermuntern, sich produktiv mit diesen Themen zu beschäftigen, schrub das Bundesinnenministerium einen Essaywettbewerb aus. Aus über 100 Bewerbungen hat eine Jury jetzt den Sieger ermittelt: Der in Trier lebende Student Gisbert Löcher überzeugte mit seinem Aufsatz „Ich werde 100 gute Jahre leben“. Wenn er über das Altern spricht, geht es immer auch um sein eigenes: In wenigen Wochen feiert er seinen 60 Geburtstag.

TRIER. In den vergangenen Monaten plagen mich Zweifel. Klopfen mit meinen häufigeren Gedächtnisaussetzer die Vorboten der Demenz bereits bei mir an? Oder arbeite ich einfach zu viel? Sind zunehmende Gedächtnislücken mit 60 normal? Ich gehe dem Thema Demenz gerne aus dem Weg.

Es ist wahrscheinlich, dass die Juroren überrascht waren, als sie Gisbert Löchers Beitrag in den Händen hielten. Es hatten wohl die wenigsten damit gerechnet, in einem Essaywettbewerb für Studierende auch den Beitrag eines selbst Betroffenen zu lesen. Der in Trier lebende Gisbert Löcher hat einen sehr persönlichen, stellenweise intimen Zugang gewählt, um das Thema „Chance Demografie: „Weniger? Älter? Na und…“ zu behandeln – und stach damit aus der Masse von über 100 eingereichten Beiträgen heraus: Sein Aufsatz „Ich werde 100 gute Jahre leben. Ein Essay zum gelingenden Altern“ wurde von der Fachjury mit dem 1. Preis ausgezeichnet.

Gisbert Löcher ist 59 Jahre alt, arbeitet als Programmierer bei einer Bank in Luxemburg und ist zusätzlich in einem Fernstudium der Integrierten Gerontologie an der Universität Stuttgart eingeschrieben. In diesem Rahmen ist auch sein Essay entstanden. „Ich hätte überhaupt nicht anders darüber schreiben können als persönlich“, erklärt er, vor einem Glas Bardolino in seiner Dachgeschosswohnung im Süden Triers sitzend. „Anders als viele meiner Kommilitonen habe ich keinen fachlichen Hintergrund, ich kann nur aus meinem eigenen Erfahrungsschatz schöpfen.“ Dass er mit seinem Beitrag zum Gewinner gekürt wurde, kann er manchmal immer noch nicht richtig glauben: „Ich habe vorher noch nie etwas geschrieben, dass ich das kann, kommt als Überraschung noch hinzu. Ab und zu denke ich immer noch, jetzt kommt der Brief, in dem steht: Es tut uns sehr leid, aber wir haben uns geirrt“, sagt Löcher und lacht sein lautes Lachen.

Ich möchte gerne 100 gute Jahre leben. Warum? Zum einen wünsche ich mir ein langes Leben und will körperlich und geistig gesund bleiben. Ein ’sportlicher‘ Ehrgeiz ist auch dabei: Ich will wissen, ob ich die 100 Jahre schaffe. Zum andern will ich mein Lebensende so weit wie möglich hinausschieben, da ich mich fürchte; nicht so sehr vor dem Tod, aber vor einem Sterben mit Schmerzen. Wie viel eigenes Tun und Gottvertrauen brauche ich, um 100 Jahre als zu werden?

Sein eigenes Leben hat Gisbert Löcher zum sportlichen Wettkampf erklärt. Das Ziel: ein gelingendes Altern. Davon handelt sein Aufsatz. Dabei weiß er, dass er nicht mit den besten Voraussetzungen für diesen Wettkampf gerüstet ist: Er leidet unter mehreren angeborenen chronischen Erkrankungen. „Das ist auch der Grund, warum ich mich als junger Mann nie mit den Themen Altern und Tod beschäftigt habe, das schien mir ganz unwahrscheinlich und weit weg zu sein“. Erst ein Suizid im Bekanntenkreis habe ihn zum Nachdenken bewogen: Seitdem folgt sein Leben einem strengen „Generalstabs-Plan“, in dem der abendliche Rotwein nur ein kleiner Baustein ist. Eine vorwiegend vegetarische Ernährung, keine Zigaretten, wenig Alkohol, viel Bewegung, geistiges Training und eine lückenlose medizinische Vorsorge gehören ebenso dazu.

Neben Vollzeit-Job und Fernstudium bleibt Gisbert Löcher wenig Zeit. Die wenigen freien Stunden, die er hat, widmet er zwei 94-jährigen Frauen in der Nachbarschaft, die er als ehrenamtlicher Hospizmitarbeiter regelmäßig besucht. „Mittlerweile sind es fast freundschaftliche Bindungen, die sich entwickelt haben“, sagt er. „Und irgendwie hoffe ich auch, dass es in meinem eigenen Alter auch jemanden geben wird, der genauso für mich da ist.“ Sein Interesse am Alter ist mit den Jahren gewachsen, je älter er selbst wurde. „Wenn ich auf der Straße alte Leute sehe, dann frage ich mich unwillkürlich,wie deren Leben aussieht, wie sie das alles hinkriegen, was ihre Sorgen sind“, erzählt er. „Sie sind so duldsam und wollen niemandem zur Last fallen, deshalb bekommen wir viele ihrer Probleme überhaupt nicht mit.“ Gisbert Löcher weiß, dass sein starkes Interesse für Alter und Tod die Ausnahme ist in einer Gesellschaft, die sich über Jugend und Schönheit definiert. „Dabei finde ich es so unglaublich spannend zu wissen, dass ich das erleben werde, dass wir alle einmal wissen werden, was dann passiert“. In seiner Stimme klingt Begeisterung.

Wenn er demnächst seinen 60. Geburtstag feiert, gehört er offiziell zu der Gruppe, die in den Alterswissenschaften die „jungen Alten“ genannt werden. Während viele seiner Altersgenossen sich auf den nahenden Ruhestand einstellen, bastelt Löcher an seiner nächsten Karriere. Er will sich als Alterspsychologe und Seniorenberater selbstständig machen, um Menschen beim gelingenden Altern zu unterstützen. Mit seinem Essay hofft er, „den ein oder anderen Leser zum Nachdenken angeregt zu haben“. Er versteht den Aufsatz nicht als politisches Manifest, aber auch nicht als reine Selbstbeschäftigung: „Ich sehe diese Schrift als Vorschlag an die Gesellschaft, wie wir mit Altern und Sterben auch umgehen könnten.“ Gleichzeitig gibt er zu bedenken, dass seine Vision eines gelingenden Alterns meist ein Privileg für Wohlhabende und Gebildete ist, ein Luxus: „Dass das so ist“, sagt er, „empfinde ich als eine furchtbare Ungerechtigkeit.“

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