Für eine Handvoll Flaschen

In Wohnungen, Büros und Studenten-WGs häuft es sich an, derweil andere ihre Tage und auch Nächte damit verbringen, die Straßen und Abfalleimer der Stadt danach abzusuchen: Leergut hat sich für manche Menschen inzwischen zu einer wichtigen Einnahmequelle entwickelt. Aber das Pfandsammeln ist für viele nicht nur demütigend, sondern kann mitunter auch gefährlich werden. Eine Initiative von Berliner Studenten hat jetzt eine Online-Plattform entwickelt, die das Sammeln einfacher machen soll – ein System, das schon einige Studenten-WGs von ihrem Berg aus Flaschen und Dosen befreit haben soll. Derweil wird der Kampf der Sammler auf der Straße härter.

TRIER. Vor zwei Jahren, an einem Frühsommerabend, griff Helga daneben. Oder besser: sie griff voll hinein. Die Triererin durchstreifte auf der Suche nach Pfandflaschen die Simeonstraße. Es war schon dunkel, man konnte nicht mehr viel sehen als Helga mit ihrer rechten Hand in den „Uns schöner Trier“-Mülleimer griff. „Im ersten Moment habe ich gar keinen Schmerz gespürt“, erinnert sie sich und zeigt jetzt die Narbe auf ihrer Handfläche. „Dann war plötzlich alles voller Blut.“ Die Scherben einer zerbrochenen Flasche hatten in ihre Hand geschnitten. Helga hatte noch Glück im Unglück, denn die Sehnen ihrer Finger waren nicht durchtrennt worden: „Wenn ich meine Hände nicht mehr benutzen könnte“, sagt sie, „dann wüsste ich nicht, wovon ich leben sollte.“

Seit sie im Alter von 56 Jahren frühverrentet wurde und von Hartz IV leben muss, sammelt Helga Pfandflaschen. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen, weil sie Angst hat, dass ihr dann das Geld gestrichen werden könnte. Seit der Einführung des neuen Pfandsystems zum 1. Januar 2006 haben sich Sammler von Glas- und Kunststoffflaschen sowie Getränkedosen zu einer festen Größe im Stadtbild deutscher Innenstädte entwickelt. Ein Phänomen, das nicht nur ein sichtbares, oft demütigendes Eingeständnis von Armut ist, sondern – wie in Helgas Fall – auch gefährlich werden kann.

Währenddessen gibt es Orte, an denen sich das Leergut regelrecht auftürmt: in Büros, Wohnungen und vor allem in Studenten-WGs, in denen sich oft niemand für den Flaschenberg verantwortlich fühlt. So wie in einer Wohngemeinschaft in der Innenstadt, nur einen Steinwurf entfernt vom nächsten Supermarkt mit Leergutautomat. Ungefähr hundert Flaschen, schätzen die Bewohner, haben sich nach der letzten Party angesammelt und nehmen fast die komplette Vorratskammer der Wohnung in Beschlag. „Irgendwie bedrückend“ finden sie die Situation, auch ist man etwas peinlich berührt, weshalb man nicht mit Namen erscheinen möchte. Aber den Impuls, die Ladung Leergut gleich um die Ecke gegen bares Geld einzutauschen, verspüren die Studenten offenbar nicht. Eine Haltung, die wahrscheinlich nicht nur in dieser Wohnung die Ansammlungen leerer Flaschen weiter anschwellen lässt.

Es herrscht ein Ungleichgewicht zwischen denen, die Flaschen suchen, und denen, die sie haben, aber nicht gebrauchen können. Diese Feststellung hat eine Gruppe Berliner Studenten auf eine Idee gebracht: Mit der Internet-Plattform www.pfandgeben.de wollen sie zwischen Angebot und Nachfrage vermitteln. Wer Leergut aus seiner Wohnung abholen lassen möchte, gibt auf der Seite seine Stadt und die Anzahl der Flaschen ein und bekommt im Gegenzug die Nummer eines Pfandsammlers aus seiner Gegend. Die beiden Parteien vereinbaren einen Abholtermin, der Erlös aus dem Leergut gehört allein dem Pfandsammler.

An Spitzentagen macht Helga 60 Euro

Seit Anfang des Monats ist die Seite im Netz. War das Angebot anfangs nur in der Hauptstadt verfügbar, sind allein in den letzten Wochen Ableger in neun weiteren Städten von Hannover bis Augsburg entstanden. Der Gründer Jonas Kakoschk studiert Kommunikations-Design an der HTW Berlin und hat in der Anfangsphase selbst Flaschensammler angesprochen, um sie nach ihrer Nummer zu fragen und von dem Projekt zu überzeugen. Für die Fortsetzungen in anderen Städten sieht er die Bürger vor Ort in der Pflicht: „Sprich einfach Pfandsammler auf der Straße an, erkläre, um was es geht, und lass Dir ihre Nummer geben. Vergiss bitte nicht, darauf hinzuweisen, dass das Ganze online erscheint“, heißt es auf der Homepage der Initiative. Über das Online-Formular oder per SMS können die Handy-Nummern von Pfandsammlern mit (Spitz-)Namen und Bezirk eingereicht werden, daraufhin erscheinen sie in der Datenbank.

Bei der WG mit dem Pfandflaschenberg stößt die Idee auf helle Begeisterung. Die vier Studenten überlegen, ob sie in den nächsten Tagen Pfandsammler ansprechen und ihnen von der Aktion erzählen sollen. Von einer „Win-Win-Situation“ spricht eine der Mitbewohnerinnen. „Wir sind auf die paar Euro Pfand nicht angewiesen, für uns ist das lästig“, sagt sie. „Aber für einen Pfandsammler ist es bestimmt angenehmer, sich ein paar Tüten auf einmal mitzunehmen, anstatt den ganzen Tag in Mülltonnen zu wühlen.“

Pfandsammlerin Helga ist zunächst skeptisch, weil sie kein Handy hat. Prinzipiell findet sie die Idee aber gut und würde sich um ein Handy kümmern, wenn die Plattform auch in Trier genutzt werden könnte. Ihr gefällt die Vorstellung, auf einen Schlag ganze Tüten voller Flaschen zu haben. Richtig große Mengen schafft sie sonst nur bei Heimspielen der Eintracht oder wenn Karnevalsumzüge sind. An solchen Tagen, den ertragreichsten des Jahres, macht sie manchmal bis zu 60 Euro. An den anderen Tagen, den normalen, wird es immer weniger. „Ich habe das Gefühl, dass immer mehr Leute sich um immer weniger Flaschen reißen“, sagt sie. Längst haben Platzhirsche die Reviere in der Innenstadt unter sich aufgeteilt; einfach in fremden Mülleimern zu wildern, kann schnell gefährlich werden.

Kürzlich, erzählt Helga, habe eine Gruppe sie vom heiß umkämpften Bahnhofsvorplatz vertrieben. „Wenn ich alleine bin, wird mir dabei schon ein bisschen mulmig“, sagt sie. Je länger sie darüber nachdenkt, desto mehr kann sie der Idee mit der Leergut-Abholung abgewinnen. Am besten gefällt ihr daran, dass sie dafür nicht mehr in Mülleimer fassen müsste. Denn seitdem ihr das mit der Hand passiert ist, hat sie dabei immer ein ungutes Gefühl.

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