„Es herrscht theoretische Gleichschaltung“

Verehrt und verachtet: Wenn sich heute der Geburtstag von Karl Marx jährt, richten sich die Augen zumindest für einen Tag wieder verstärkt auf sein Werk. Der Blickwinkel, aus dem auf das Erbe des Philosophen geblickt wird, hat sich gewandelt: Seit Krisen jeglicher Couleur die Zeitungsspalten füllen, gilt der berühmte Trierer nicht mehr nur als Wegbereiter kommunistischer Diktaturen, sondern als weitsichtiger Analytiker kapitalistischer Dynamiken. Fritz Reheis hat mit „Wo Marx Recht hat“ einen Band vorgelegt, der das Werk einer undogmatischen Revision unterzieht, und ihn keineswegs auf dem „Müllhaufen der Geschichte“ verortet. Der Wirtschaftswissenschaftler Michael Dauderstädt hingegen plädiert für einen „regulierten Kapitalismus und soziales Wachstum“. Zwei Sichtweisen, die am Donnerstagabend im Karl-Marx-Haus aufeinander trafen.

TRIER. Als sich 2008 die Bankenkrise anbahnte, liefen im Dietz-Verlag die Maschinen auf Hochtouren: Eine so noch nicht gekannte Nachfrage an Marx´ „Kapital“ überrollte das Haus. Der Spiegel fragte 2009, acht Jahrzehnte nach dem Börsencrash von 1929, auf seiner Titelseite bang „Wiederholt sich die Geschichte doch?“. Plötzlich war die Krise wieder in aller Munde und mit ihr rückte auch Karl Marx in den Fokus der Aufmerksamkeit. Über Monate wurde die Frage nach der Aktualität seiner Schriften in den Feuilleton- und Wirtschaftsseiten diskutiert. Seither ist es wieder ruhiger geworden.

Dass sich das Thema in der Zwischenzeit keineswegs erledigt hat, zeigen die zusätzlichen Stühle, die vor Beginn der Veranstaltung im Karl-Marx-Haus aufgestellt werden müssen. „Hätte vor zwanzig Jahren jemand gesagt, man würde mit einer Marx-Diskussion im Jahr 2012 einen Saal füllen, man hätte ihn für verrückt erklärt“, bemerkt Moderator Dieter Lintz vor Beginn der Diskussion. Mit Fritz Reheis tritt ein Soziologe die Ehrenrettung an, der zur Abwechslung nicht aus dem Lager einer orthodox-marxistischen Organisation argumentiert, sondern mit den Augen eines Nachgeborenen auf die Thesen blickt und sie auf ihre aktuelle Anwendbarkeit abklopft. Mit seinem Band „Wo Marx Recht hat“ hat der promovierte Soziologe ein Werk zusammengetragen, das anschaulich erklärt, ohne unzulässig unterkomplex zu vereinfachen. In das Karl-Marx-Haus in der Brückenstraße („Eine besondere Ehre“) hatte man ihn daher zu einer Podiumsdiskussion unter der Leitfrage „Kapitalismus in der Krise – Hatte Marx Recht?“ eingeladen – und ihm einen Gesprächspartner zur Seite gestellt, der schon im Vorfeld erwarten ließ, dass sich nur wenige gemeinsame Nenner finden lassen würden.

Als jemand, der sich „lange Zeit als Marxist gefühlt“ habe und durchaus Sympathien für Reheis´ Buch hege, saß ihm Michael Dauderstädt gegenüber, Abteilungsleiter für Wirtschafts- und Sozialpolitik der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Bei der allgemein gehaltenen Sympathien endete der Konsens der beiden Wissenschaftler allerdings erwartbar schnell: „Ein vernünftig regulierter Kapitalismus ist eine Kraft zum Guten hin“, behauptet Dauderstädt und erklärt die Verelendungstheorie zur Unterstellung: „Anzunehmen, dass Kapitalismus automatisch zu Elend führe, ist falsch“. Die prosperierenden Schwellenländer seien der beste Beweis dafür, dass der Kapitalismus „keine rein negative Kraft“ sei und durchaus zu massenhaftem Wohlstand führen könne. Weder sei – angesichts hoher Staatsquoten – der Fortbestand des Wohlfahrtsstaates gefährdet, noch sei Umweltzerstörung ein kapitalistisches Privileg: „Unter sozialistischen Regimen haben wir sehr viel grausamere Umweltpolitik erlebt“, so Dauderstädt.

Positionen, denen Reheis mit einer einzigen Gegenfrage begegnet, die gleichzeitig ein Kern seiner Argumentation ist: „Die Frage ist immer“, sagt er, „welchen Preis wir dafür zu zahlen haben“. In den Schwellenländern seien dies massive ökologische und sozialen Verwerfungen. Für Reheis nicht Ergebnis, sondern Symptom: „In der kapitalistischen Logik werden Probleme nicht gelöst, sondern verschoben. Die Behauptung einer Alternativlosigkeit ist ebenso charakteristisch wie falsch“ Eine Gesellschaft, im letzten Schluss die Menschheit, müsse sich die Frage stellen, ob sie den Preis der Ausbeutung, Enteignung und Entfremdung für wirtschaftliches Wachstum zahlen will – und auf lange Sicht kann. Einer der größten Verdienste von Karl Marx ist für Fritz Reheis, dass er mit seiner Analyse der Arbeit eine wirkliche Alternative zu der klassischen individualistisch-liberalen Wirtschaftstheorie aufgezeigt habe. Ein Umstand, der sich in den Lehrplänen der Universitäten allerdings nicht widerspiegle: „Es herrscht theoretische Gleichschaltung, an den Hochschulen wird dahingehend regelrechte Gehirnwäsche praktiziert“, meint Reheis.

Während der Soziologe, dessen thematisches Steckenpferd eigentlich die „Entschleunigung im Turbokapitalismus“ ist, seine Sympathien nicht verbirgt, macht auch Dauderstädt keinen Hehl daraus, wes Geistes Kind er ist. Es gebe in Deutschland eine relevante Minderheit – wenn auch aufgrund der Kapitalkonzentration noch keine Mehrheit – die mittlerweile ein Interesse an der Sicherung kapitalistischer Errungenschaften habe (Stichwort: „Ihre Spareinlagen sind sicher“). Im letzten Schluss endet die Auseinandersetzung der beiden Redner immer in einem Fluchtpunkt, der sich seit Erscheinung des „Kommunistischen Manifests“ nur wenig gewandelt hat: „Es ist die Frage nach der demokratischen Gestaltung der Arbeitswelt und nach Herrschaftsverhältnissen, keine Frage von Spiritualität“, sagt Reheis. Die Fragen nach Privateigentum, nach neuen Formen der Arbeit und auch der Infragestellung eines generellen Arbeitszwangs – das seien nach wie vor die Themen, auf die es Antworten zu finden gebe. „Die Überwindung kapitalistischer Zwänge ist nicht möglich ohne die Befreiung von entfremdeter Arbeit“, erklärt Reheis. Der Kapitalismus lebe auch davon, „dass wir keine Zeit haben, über ihn nachzudenken.“

Als jemand, der sichtlich wenig von revolutionären Umbrüchen hält, bekennt Dauderstädt seine Hoffnung, dass das Karl-Marx-Haus „auch noch in 25 Jahren in Besitz der Friedrich-Ebert-Stiftung ist“. Er ruft weiter nach einer Regulation des Kapitalismus und „sozialem Wachstum“: Es könne nur das verteilt werden, was zuvor produziert wurde, sagt er – und schweigt sich über die Verteilungsgerechtigkeit weitgehend aus. Vielleicht die einzige Position, die beide Gesprächspartner zum Ende bedingungslos teilen können: „Es ist noch ein langer Weg, den wir vor uns haben.“

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