„Entschleunigung des Sehens“

Dem fast vergessenen Medium der Projektionskunst auf der Spur war der Trierer Professor für Medienwissenschaft, Martin Loiperdinger, als er das Material für die im Mai erschienene Doppel-DVD „Lichtspiele und Soziale Frage / Screening the Poor 1888-1914“ zusammentrug. Die bereits dritte von ihm herausgegebene DVD dokumentiert die Auseinandersetzung mit Armut in Lichtbildserien und frühen Filmen um 1900 anhand von zahlreichen Lichtbildern, Filmen und historischen Dokumenten. Heute um 11 Uhr und am Donnerstag um 19.30 Uhr wird ein vorweihnachtliches Programm aus der DVD von Professor Loiperdinger im „Broadway Filmtheater“ vorgestellt. Im Gespräch mit 16vor erzählt er von der Magie, die nach wie vor von dem alten Medium ausgeht.

16vor: Herr Professor Loiperdinger, die DVD „Lichtspiele und Soziale Frage“ zeigt in sieben Kapiteln die verschiedensten Facetten von Armut. Nun hat die soziale Frage gerade in der Weihnachtszeit Konjunktur, nie wird so viel gespendet wie zur Adventszeit. Ist dieser Zeitpunkt bewusst gewählt?

Martin Loiperdinger: Ja, wir haben aus dem Fundus der DVD ein eigenes Weihnachtsprogramm zusammengestellt. Darunter sind einige explizite Weihnachtsgeschichten, wie das Hans Christian Andersen Märchen „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, das wir als gemalte Lichtbildserie von 1905 vorführen werden. Wir nennen die Vorführung „Lichtspiele der Barmherzigkeit“. In den meisten Geschichten, die wir zeigen, geht es um die christliche Tugend der Caritas. Die dargestellten Schicksale sollen vor allem Mitgefühl erregen. Arme Kinder eignen sich dafür besonders gut. Auch Spenden werden ausdrücklich thematisiert. Wie zu der Zeit üblich, wird da schon mal auf die Tränendrüse gedrückt. Die emotionalen Darstellungen können aus heutiger Sicht mitunter kitschig wirken, sind aber gerade aus kulturgeschichtlicher Perspektive hoch spannend.

16vor: Die Filme und Bilder sind bis zu 120 Jahre alt. Wie sind Sie an das Material gekommen?

Loiperdinger: Die Kurzfilme haben wir aus zehn verschiedenen Filmarchiven in mehreren Ländern zusammengetragen. Das war möglich, weil wir die DVD zusammen mit dem Deutschen Filminstitut produziert haben und weil die Edition Filmmuseum, in der die DVD erschienen ist, ein international renommierter DVD-Verlag ist. Bei den Lichtbildserien war die Sache etwas schwieriger. Die erhaltenen Bilder sind nämlich heute zumeist im Besitz von privaten Sammlern. Hier gaben langjährige persönliche Beziehungen von Herrn Vogl-Bienek den Ausschlag. Dr. Vogl-Bienek ist nicht nur wissenschaftlicher Mitarbeiter in unserem Forschungsschwerpunkt „Screen 1900“, sondern er ist auch selbst Sammler und führt mit dem Ensemble „illuminago“ Laterna- Magica-Schauen auf. Auch in Trier ist das natürlich schon mehrfach geschehen. Die DVD zeigt auch Wiederaufführungen von Lichtbild-Geschichten durch das Ensemble „illuminago“. Wir wollen also auch dieselben Texte, Balladen und Musikstücke benutzen, die damals die Vorführungen begleiteten. Leider sind diese nicht immer eindeutig überliefert.

16vor: Im Mittelpunkt ihrer Forschung als Professor der Medienwissenschaft steht die Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte. Neben dem frühen Film beschäftigen sie sich immer wieder mit der sogenannten Laterna magica, das heißt mit dem Medium der Projektionskunst. Was macht dieses Thema für Sie so spannend?

Loiperdinger: Die Projektionskunst ist für mich besonders faszinierend, weil sie ein in Vergessenheit geratenes Medium ist. Dabei war sie einst ein visuelles Massenmedium und im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ausschlaggebend dafür, dass sich später der Film, das bewegte Bild, so gut durchsetzen konnte. Das Publikum war es durch die Laterna-magica-Vorführungen bereits gewohnt, sich vor eine Leinwand zu setzen und dort Lichtbilder anzuschauen. Es war eine gängige kulturelle Praxis. Heute ist die Forschung zur frühen Projektionskunst ein blinder Fleck der Medienwissenschaft. Mit dem Forschungsprojekt „Screen 1900“ ist die Universität Trier die einzige, die sich eingehend mit diesem Medium beschäftigt.

16vor: Wie muss man sich so eine Laterna-magica-Vorführung von damals überhaupt vorstellen? Ähnlich wie einen Kinobesuch?

Loiperdinger: Nun ja, die großen, farbigen Lichtbilder waren damals eine richtige Sensation. Zu den Aufführungen in Theatern und Gemeindesälen kamen schon mal 1000 bis 2000 Zuschauer. Meist waren es Wanderschausteller, die mit ihrem Apparat und den Bildern von Stadt zu Stadt zogen. Dort wurden dann Reisebilder und lustige Sketche gezeigt oder Bildungsvorträge mit Bildern unterlegt. Die Bilder wurden stets von einem Erzähler erläutert und häufig auch musikalisch begleitet.

16vor: Der moderne Kinogänger ist hektische Schnitte, täuschend echte Spezialeffekte und dröhnenden Sound gewöhnt. Was kann ihn da an einem ausgedienten Medium von gestern noch reizen?

Loiperdinger: Entschleunigung! Im Kino wird der Blick doch heute schon allein durch Schnitt und Montage ganz stark gelenkt. Bei der Lichtbildprojektion stehen die Bilder, und der Blick kann in aller Ruhe innerhalb des Bildes wandern. Ich finde, das hat etwas Erholsames. Es ist eine Entschleunigung des Sehens. Ja, und das passt dann auch wieder in die Vorweihnachtszeit. Wir zeigen Bilder, die zur Besinnlichkeit anregen.

16vor: In den Aufnahmen werden Kinderarmut, das Elend in den Slums der Industriestädte und Missstände in Armenhäusern thematisiert. Also Themen, die weit zurückzuliegen scheinen. Hat sich die Armut in Europa gewandelt?

Loiperdinger: Um die Gewährleistung von Grundnahrungsmitteln und das nackte Überleben geht es heute, zumindest in Europa, nicht mehr. Das ist ausgelagert in die so genannte Dritte Welt. Heute gibt es in Europa vor allem Formen von kultureller Armut, von Perspektivlosigkeit. Wenn mangelnde finanzielle Mittel sozialen Ausschluss verursachen, ist das eine Armut, die Geist und Seele betrifft. Aber auch die Auseinandersetzung mit Armut hat sich verändert. Die Filme und Lichtbilder zeigen, wie damals an das Mitgefühl für Arme appelliert wurde. In dieser Form wird das heute nicht mehr gemacht. Die Vorführung im „Broadway“ zeigt dem Publikum eine weitgehend unbekannte Bilderwelt der Caritas.

Jannis Puhlmann

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