Die tollkühnen Männer auf ihren rollenden Tonnen

Der Sommer 2012 wird mir immer auch als eine Zeit der sportlichen Großereignisse in Erinnerung bleiben. Gleich DREI ganz große Sportevents habe ich gespannt mitverfolgt: die Fußball-EM in Polen und der Ukraine, die Olympischen Sommerspiele in London und schließlich die Mülltonnen-Weltmeisterschaft in Hermeskeil. Dieses Hochgeschwindigkeitsspektakel reiht sich ein in die Tradition regionaler Sondersportereignisse wie dem „Olewiger Fassrollen“, dem Trierer Saufrennen „Mariathlon“ oder dem Geschicklichkeitsbaggern in Nonnweiler-Primstal („Unser Dorf baggert“). Wobei das Hermeskeiler Mülltonnenrennen unter diesen Extremsportarten eine Sonderstellung einnimmt, denn es handelt sich hierbei um eine echte Weltmeisterschaft! Immerhin kommen die Mülltonnenpiloten nicht nur aus dem Kreis Trier-Saarburg und dem verwegenen Nordsaarland, sondern auch aus Saarlouis, der Pfalz, dem Schwarzwald, aus Österreich und Belgien. 

HERMESKEIL. Mülltonnenrennen ist ein echter Männersport, auch wenn in Hermeskeil ein halbes Dutzend Amazonen unter den Rennfahrern sind – dem Mülltonnenrennen liegt etwas Urmännliches zugrunde, nämlich sinnfreier Wagemut!

Vielleicht stimmt es, dass auch Männer irgendwann erwachsen werden – aber manche von ihnen können das wunderbar verbergen. Wie ließe es sich sonst erklären, dass Typen, die ansonsten ganz normale Jobs haben und – ohne Rennkleidung – einen durchaus seriösen Eindruck machen, in ihrer Freizeit eine handelsübliche Mülltonne umkippen, sich bäuchlings drauflegen und so die Trierer Straße in Hermeskeil runterbrettern? Das ist wirklich nix für Memmen!

Ich also letztes Wochenende nach Hermeskeil. Schon früh bin ich da, um die spannungsgeladene Atmosphäre während des freien Trainings und die Stimmung im Fahrerlager zu atmen.

Das Fahrerlager, sozusagen die Mülltonnen-Boxengasse, neben der Eisdiele „La Venezia“ und hinter dem Hochwaldmuseum, vibriert vor Aufregung. Aus den Lautsprecherboxen an der Strecke dröhnt gerade „Staying Alive“ von den Bee Gees, und damit ist auch schon die taktische Marschroute dieser Extremsportart ausgegeben: Lebend ins Ziel kommen – es irgendwie die Trierer Straße in rasender Fahrt runterschaffen, ohne sich sämtliche Knochen zu brechen.

Vielleicht sollte ich zunächst etwas zum Sportgerät erklären. Gerast wird, wie gesagt, auf einer handelsüblichen Hausmülltonne. Die hat ja bekanntlich zwei Räder und einen Deckel. Die meisten Fahrer wählen das 120-Liter-Model, und die Mülltonnen dürfen nicht umgebaut werden, sondern sie werden so gefahren, dass die Räder und die Deckelscharniere auf der Straße aufliegen. Die meisten Fahrer befestigen lediglich eine Polsterung auf der oben liegenden Seite der Mülltonne, auf die sie sich dann draufwerfen und die Mülltonne so ausbalancieren, dass nur noch die Räder den Asphalt berühren. Es würde also reichen, eine leere Mülltonne von zuhause mitzubringen, eine Startnummer auf den Deckel zu kleben und sich in Hermeskeil die Straße runterzustürzen, aber natürlich haben die meisten Fahrer beziehungsweise die Dreierteams ihre 120-Liter-Boliden liebevoll verziert oder Werbebanner der Sponsoren draufgeklebt.

Wie wurden Mülltonnenrennen erfunden? Ich habe keine Ahnung, kann mir aber gut vorstellen, dass jemand wie der Meier Kurt wöchentlich die Mülltonne aus der Garage rollen und eine leicht ansteigende Zufahrt raufziehen muss. Nach der Leerung durch die Müllabfuhr ist er genötigt, die Tonne mit einem Eimer Wasser auszuwaschen und da er zu faul ist, Reinigungsapparaturen und Mülltonne einzeln zurück in die Garage zu schaffen, hat er mal die leere Gießkanne und die Reinigungsbürste im sauberen Innern der Tonne verstaut und dann – einfach mal probiert, ob man – tja, das Gefälle bis in die Garage nicht sinnvoll nutzen könne, wo man doch schon mal ’ne Achse und zwei Räder hat. Nachdem auf diese Art höchstens drei bis vier Hausmülltonnen an der Garagenrückwand zerschmettert wurden, hat sich die Fahrtechnik dann allmählich so verfeinert, dass man diese Methode der Mülltonnenrückführung auch mal einem interessierten Nachbarn zeigen kann… und schon ist es nur noch ein kleiner Schritt für eine entsprechende WM auf anspruchsvollerer Strecke.

Apropos Strecke: Die Trierer Straße in Hermeskeil ist verdammt steil. Wer schon mal in die Verlegenheit geraten ist, sie in die verkehrte Richtung, also bergauf, mit dem Rad fahren zu müssen, weiß, wovon ich rede. Aber für die Mülltonnen-WM ist die Rennstrecke noch nicht steil genug. Daher gibt es in diesem Jahr extra eine hölzerne Startrampe, gleich neben dem Hochwaldmuseum, um von Anfang an ordentlich Tempo aufnehmen zu können und den Start noch spektakulärer zu gestalten. Um die Rampe herum laufen aufgeregt der Rennleiter und der Zeitnahmemeister hin und her, beide gehören zum Veranstalter, dem Hermeskeiler „Yes Angels e.V.“

Oben auf der Startrampe gehen die ersten der über 60 Rennteilnehmer in Startposition. Sie scherzen untereinander – ich glaube, das machen sie, um einigermaßen angstfrei über die Rampe zu kommen. Aber wenn dann der Startleiter rückwärts zählt, „drei-zwei-eins-und los“, und das frenetische Publikum die Startenden anfeuert, vertreibt das Adrenalin die Angst. Den Schweiß drückt jetzt nur noch die enorme Hitze – es ist der heißeste Tag des Jahres 2012 – aus dem Kragen der Rennkleidung. Innerhalb des Sturzhelmes herrscht eine gefühlte Temperatur von 60 Grad. Und das nächste kühle Bier gibt’s erst wieder kurz hinter der Ziellinie.

Nur die allerwenigsten Rennteilnehmer donnern gleich in der ersten Kurve in die dort aufgestellten Heuballen. In der Regel überstehen die meisten dieses erste Hindernis mit einem nur leichten Touchieren. Spätestens aber, wenn die Eisdiele „La Venezia“ passiert worden ist, entfaltet das Rennen seine ganze Ästhetik: Über den flimmernden Hermeskeiler Asphalt rattern kleine Kunststoffräder. Die Anfeuerungsrufe der Zuschauer werden nur noch von dem skrrrtschenden Geräusch übertönt, wenn die Mülldeckelscharniere kurz auf dem Straßenbelag aufsetzen – und vom metallischen Kreischen der Stahlkappen an den Fußspitzen, die bei Lenk- oder Bremsversuchen den heißen Asphalt aufkratzen.

Der Rennstreckensprecher gibt über Lautsprecher immer wieder die Namen der einzeln startenden Rennpiloten durch und die respekteinflößenden Bezeichnungen der Teams, zu denen sie gehören, wie zum Beispiel „Hornochsen“, „Saar Trash Racing“, „Free Pussy Riot“, „Nicht Handzahm“, „Neustädter Gägs“ oder „Belgien 1“ und „Belgien 2“.

Und wenn die Fahrt besonders gut gelingt, schweben – mit einem Tempo von über 40 km/h – für einige Sekunden sowohl die Mülltonnendeckelscharniere als auch die Rennfahrerfüße etwa fünfzehn Zentimeter über der Trierer Straße; und würde man nicht das Rattergeräusch der billigen Plastikräder hören, könnte man meinen, Fahrer und Tonne würden über den Asphalt fliegen.

Es gibt mehrere Läufe. Die allerschnellsten dauern einundzwanzig, zweiundzwanzig Sekunden, also durchaus „etwas kürzer als ein Geschlechtsverkehr“ (würde der Backes Herrmann in so einem Fall behaupten), aber der Eindruck drängt sich auf, dass die Euphorie und die Glückshormonausschüttung während dieser gut zwanzig Sekunden ähnlich intensiv empfunden werden.

Verdammt! Ich wünschte, auch ich könnte ein Mülltonnenrennenweltmeisterschafts-Teilnehmer sein. Ja, das wäre es! Alle Bedenken beiseiteschieben, die eigene Hausmülltonne auskippen, und dann auf der flachgelegten Tonne in Trier zum Beispiel die Kohlenstraße oder die Gustav-Heinemann-Straße runterheizen. Ich träume davon, aus Trainingszwecken dabei Stadtbusse der Linie 3 oder 6 zu überholen – aber dann schweift mein Blick über die Absperrung zur gegenüberliegenden Straßenseite. Und wen sehe ich da? Na, wen wohl? Richtig: „et“ Hildegard, das Boxenluder! Sie kreischt und hüpft auf der Stelle und applaudiert den Vorbeirasenden. Der Meier Kurt ist weit und breit nicht zu sehen. Sonderbar! Als „et“ Hildegard mich sieht, winkt sie mir munter zu, und ruft: „Dat hier wär doch wat für dich und meinen Kurti. Nächstes Jahr machen wir auch mit, da gibt et beschdimmt auch eine Altherren-Klasse. Und ich bin euer Coach und wir hängen dann im Fahrerlager rum. Dat is hier nix für Memmen. Solle mir ab näkschter Woch träniere?“

Zum Glück darf man die Absperrung nicht überqueren und ich entkomme dem Hildegard, indem ich vorgebe, nochmal hoch zur Startrampe zu müssen, um Bilder zu machen. Aber ich finde nicht wieder richtig in meinen Traum zurück, in dem ich auf einer Hausmülltonne über die Straßen von Trier donnere – von der Tarforster Höhe nach Kürenz oder Olewig runter…

Nachtrag: Ach so, wer wurde Weltmeister? Das ist doch eigentlich egal. Bei der Mülltonnen-WM herrscht das olympische Prinzip. Na ja, wohl eher das darwinistische.

Also gut: Weltmeister wurde der Titelverteidiger Norman Schäfer aus Nonnweiler-Kastel vor dem „Hornochsen“ Joachim Häfker und dem Belgier Erik Krings. Timur Glinarski vom „Team Mythos“ ärgerte sich sehr darüber, dass ihm mit wenigen hundertstel Sekunden Abstand nur der undankbare vierte Platz blieb. Bei den Frauen gewann die Österreicherin Alice Zenz vor Kathrin Haupenthal. Die Teamwertung gewann „Saar Trash Racing“ vor „Nicht Handzahm“.

Aber falls bei der nächsten WM ein Team namens „Kesselstätter Kampf-Racer“ mit geranienverzierten Mülltonnen das Feld von hinten aufrollt, werden Sie sicher schon ahnen, welche drei Verrückte hinter diesem neuen „Rennstall“ stecken.

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