„Die Einflussnahme ist gigantisch“

Anlässlich des 11. Regionalen Klimagipfels hatte der Verein Lokale Agenda 21 Trier den Atomexperten und Träger des Alternativen Friedensnobelpreises Mycle Schneider eingeladen. Im Vorfeld seines Vortrags über zukunftsfähige Energiekonzepte sprach der gebürtige Kölner, der heute in Frankreich lebt, mit 16vor-Mitarbeiterin Kathrin Schug über seinen fehlenden Doktortitel und wie man sich bei Wissenschaftlern dennoch Respekt verschafft, die Auswüchse des Lobbyismus in Brüssel und die Zukunft der Energiedistribution.

16vor: Sie sind ein international anerkannter Experte auf dem Gebiet der Atomenergie, ohne dieses Sujet je studiert zu haben. Was hat Sie für die Thematik sensibilisiert?

Mycle Schneider: Ich bin reiner Autodidakt. Anfang der Achtzigerjahre, ich war Kriegsdienstverweigerer, bin ich im Zuge der Friedensbewegung an die Thematik geraten: Euromissile, Pershing SS-20 – heute sind das keine Begriffe mehr, damals war das ein gesellschaftlicher Konflikt. Anfangs habe ich mich mehr mit Atom- als mit Energiethemen beschäftigt, mit der Zeit wurde der Energiebereich immer wichtiger. So habe ich mir nach und nach Wissen über die verschiedenen Bereiche erarbeitet. Ich arbeite nicht als Techniker, sondern als Systemanalytiker, dadurch ist mein Blick weitwinkliger. Heute spielt meine fehlende akademische Vergangenheit meist keine Rolle mehr:

16vor: Die Tatsache, dass Sie keinen akademischen Hintergrund haben, hat nie zu Ressentiments von Seiten der wissenschaftlichen Community geführt?

Schneider: Das passiert natürlich, aber es gab einen Punkt, an dem das weitgehend vorbei war. Durch meine Lehrtätigkeiten und Erfahrungen als Berater war diese Tatsache irgendwann ausgeglichen. Ohne den Doktortitel muss ich allerdings doppelt so zuverlässig sein, was ich aber nicht als Nachteil, sondern eher als Ansporn empfinde. In meiner praktischen Tätigkeit als Experte war der Umstand nie ein Hindernis: Von Greenpeace über die Europäische Kommission bis zur Atomenergiebehörde habe ich in fast allen Bereichen als unabhängiger Berater gearbeitet.

16vor: Vor einigen Monaten lenkte ein Bestechungsskandal die Aufmerksamkeit auf die Rolle der Lobbyisten in Brüssel. Haben Sie während Ihrer Beratungstätigkeit auf europäischer Ebene ähnliche Beobachtungen gemacht?

Schneider: Der Lobbyismus in Brüssel ist unglaublich, das weiß ich auch aus eigenen Erfahrungen. Ich habe in einem Ausschuss sogar erlebt, dass Lobbyisten den Abgeordneten die Abstimmungszettel vorbereiten.Die Einflussnahme ist gigantisch, gleichzeitig ist es aber kompliziert, die Einflussnahme zu regulieren. Letzten Endes muss in den Parlamenten einfach mehr und bessere Eigenexpertise aufgebaut werden. Gerade in Frankreich ist die energiepolitische Unkenntnis führender Politiker atemberaubend, die politisch-technische Kultur ist in Deutschland sehr viel besser.

16vor: Können Sie das an einem konkreten Beispiel festmachen?

Schneider: Kürzlich gab es eine Skandal in Frankreich: Im Koalitionspapier zwischen Grünen und Sozialisten hat die Sozialistische Partei nach der Unterschrift einen Absatz streichen lassen – übrigens ein klassischer Fall von Lobbyismus. Der Grund: Die Atomindustrie hatte sich bei einem lokalen Abgeordneten beschwert, der hat die Verhandlungsführer angerufen, die haben den fraglichen Absatz herausgenommen. Wie ist das möglich? Die technische Kultur auf Seite der Verhandlungsführer war so schlecht, dass sie den Absatz überhaupt nicht verstanden haben, sie haben die Relevanz für die Politik überhaupt nicht begriffen.

16vor: Plädieren sie mit der Forderung nach höherem Spezialistentum nicht auch gegen einen weitwinkligen Blick, wie Sie ihn vertreten?

Schneider: Nein, ich rede von Kultur. Ich nenne das Kontextkultur, das heißt, dass man in der Lage ist, eine bestimmte Sache in ihrem Kontext zu sehen – dafür muss man aber ein minimales Verständnis haben. Wenn man in dem Land mit dem höchsten Atomstromanteil keine Ahnung hat, was der Unterschied zwischen Strom und Energie ist, dann haben wir ein echtes Problem. Die Verhandlungsführer eines Koalitionstextes sollten so organisiert sein, dass sie begreifen, was in einem Paragrafen steht. Sie müssen unterscheiden können, ob etwas explosiv ist oder nicht. Im Fall der französischen Sozialisten wurde aber nicht einmal verstanden, was in dem gestrichenen Paragrafen stand.

16vor: Sie wurden 1998 für die wissenschaftliche Korrektheit Ihrer Forschungen mit dem Alternativen Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Wie haben Sie vor diesem Hintergrund die Berichterstattung deutscher Medien über Fukushima wahrgenommen?

Schneider: Global katastrophal. Es wurde sehr viel mehr eine Soundbite-Medienpolitik betrieben, als der reale Versuch, zu verstehen, was dort passiert: kurze, prägnante O-Töne statt ernsthafter Recherche. Gerade bei den großen Medien konnte ich diesen Umstand nicht nachvollziehen, denn innerhalb von 24 Stunden war klar, dass dies die größte atomare Katastrophe – wenn nicht aller Zeiten – mindestens seit Tschernobyl sein würde. Ich empfand es als unerträglich, dass mir Reporter einen Monat nach der Katastrophe immer noch die Frage gestellt haben, ob es jetzt zur Katastrophe kommt. Die Diskrepanz zwischen dem, was man hätte vermitteln können, und dem, was tatsächlich vermittelt wurde, empfand ich als unerträglich.

16vor: Im Rahmen des Regionalen Klimagipfels haben Sie über intelligente Energiekonzepte gesprochen. In welche Richtung muss Energiepolitik sich bewegen, um zukunftsfähig zu sein?

Schneider: Wir erleben in diesem Bereich gerade Entwicklungen, die niemand vorhersehen oder sich vorstellen konnte. Selbst für Experten überschlagen sich die Ereignisse. Im Wesentlich geht es um das intelligente Organisieren von Technologie. Momentan ist die Logik vertikal – von oben nach unten: Wir kaufen Rohstoffe, machen daraus Strom und lassen das über ein Transport- und Verteilersystem auf die Leute „herunterregnen“ – diese Logik muss überwunden werden.

Wenn man wirklich in der Lage sein will, eine Umstellung auf erneuerbare Energien zu schaffen, dann wird es sich um Systeme handeln, die horizontal organisiert sind. Man kann sich das vorstellen wie das Internet: Nicht die Größe des einzelnen Rechners gibt den Ausschlag, sondern die Vielzahl vernetzter Geräte. Wir brauchen flexible Arten, Energie zu erzeugen und zu verteilen, zu lagern, umzuwandeln.

16vor: Neu ist dieser Ansatz nicht: Mit der Möglichkeit dezentraler Energiedistribution hat Nikola Tesla sich schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts befasst.

Schneider: Der dezentrale Ansatz ist keineswegs eine neue Idee, er wurde auch schon in den Siebzigerjahren propagiert. Nur wurde er nie oder relativ wenig umgesetzt. Man dachte, es sei umso billiger, je größer die Einheit sei. Diese Haltung kippt bereits seit den Achtzigerjahren, seitdem schrumpft die Durchschnittseinheitsgröße neu errichteter Kraftwerken wieder. Aber die Innovationen müssen in der Distribution stattfinden, weniger in der Technologie. Schon jetzt erleben wir, dass Produktionsüberschüsse zu negativen Strompreisen führen. Es wird ausreichend Strom hergestellt, es hapert nur an der Verteilung. Auch Effizienz ist dabei ein wichtiges Thema: Die Technologie ist schon viel weiter, als die meisten Geräte in den Haushalten.

Wir müssen uns von der Vorstellung eines Allheilmittels verabschieden, die eine Lösung wird es nicht geben. Es wird darum gehen, mit Hilfe von Technologie Konzepte lokal und regional aufzubauen und so weit wie möglich an die jeweiligen Umstände anzupassen.

16vor: Liegt das Problem hier nicht auch in der kapitalistischen Organisation der Energieproduktion?

Schneider: So war es, aber die Situation ist bereits im Kippen. Wir sind heute schon in der Situation, in der die Haushalte mehr in Stromproduktionsanlagen investiert haben, als die großen Stromkonzerne. Der Anteil der vier großen Stromkonzerne an erneuerbaren Energien ist verschwindend gering. Das sind Dinosaurier, die nur groß denken können. Deshalb würde mich auch interessieren, was eigentlich das Geschäftsmodell von RWE in 20 Jahren ist, in ihrer jetzigen Form werden sie dann jedenfalls nicht mehr benötigt werden. Ihr Modell ist fixiert auf die vertikale Logik, doch dafür gibt es keine Zukunft.

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