Der Wein bestimmt das Bewusstsein

Anfang der 90er Jahre behauptete der damalige Oberbürgermeister Helmut Schröer in einer Rede vor amerikanischen Ferienkurs-Studenten, wir (damit meinte er die Trierer) seien nicht schuld am Marxismus und so. In seiner Trierer Zeit sei Karl Marx noch völlig normal gewesen. Auf diese ganzen Ideen und Theorien sei der Karl erst in Berlin, Paris und London gekommen. Etwaige Beschwerden seien also zum Beispiel an den Oberbürgermeister von London zu richten. Falsch! Die entscheidenden Grundlagen waren bereits gelegt, als Marx seine Heimatstadt verließ, glaubt der Backes Herrmann. Mir ist klar, dass sich ein Oberbürgermeister als berühmtesten Sohn seiner Stadt eher einen Goethe, Beethoven oder Lukas Podolski wünscht. Aber Trier muss sich nun mal mit Karl Marx arrangieren, da gibt’s nix dran zu rütteln. Sogar ein Kaiser Konstantin oder Guildo Horn helfen als Marx-Ersatz nicht wirklich aus der Patsche. Andererseits wären Kaiserslautern oder Saarbrücken froh, wenigstens einen Marx… aber lassen wir das.

TRIER. Ich selbst weiß herzlich wenig über Marx. Und ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet der Backes Herrmann ein Fan von ihm ist. Also der Backes Herrmann ist kein Kommunist oder Sozialist oder so was, der ist überzeugter Hedonist. Aber Marx war Trierer und der Herrmann ist das auch. Also ist der Herrmann stolz auf ihn, egal, was der Kalle angestellt haben mag, als er in die Welt zog und dort in schlechte Gesellschaft geriet. Ich glaube ja, dass der Backes Herrmann den Marx heimlich bewundert, weil auch der guten Wein und schöne Frauen mochte. Da haben die beiden also was gemeinsam. Und wenn der Herrmann eine Zeitreise machen könnte, würde er die sicher nicht ins römische oder mittelalterliche Trier machen, sondern lieber in die frühen 30er Jahre des 19. Jahrhunderts zurückreisen, um den spätpubertären Marx zu treffen. Weil das technisch nicht geht, spinnt der Backes Herrmann rum und erzählt mir, wie er sich Begebenheiten aus Karls Jugend vorstellt, so zum Beispiel folgende:

Ort: Trierer Gymnasium (heute Friedrich-Wilhelm-Gymnasium)
Zeit: 1834 oder 1835, große Pause.

Marx schlendert allein abseits des Schulhofs gedankenverloren herum und sinniert über das Thema einer seiner Abiturabschlussarbeit mit dem Titel „Betrachtung eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes“ und denkt sich: „Man sollte ein Amt speziell für Arbeit einrichten, das sich mit solchen Fragen beschäftigt. Wieso muss ich mich damit im Abi rumplagen?“ Und als er so schlendert, merkt er gar nicht, dass ein Junge, etwa drei, vier Jahre jünger als er, der mit entkorkter Weinflasche halb in Deckung hinter einem Busch sitzt, ihn beobachtet.

„He“, ruft der Junge! „Bast dau net den Marxens Karl?“
„Äh, ja“, antwortet dieser, aus seinen Gedanken gerissen und erfreut darüber, dass der Junge ihm die Flasche Olewiger Riesling hinhält und mit einer Kopfbewegung zu verstehen gibt, er solle einen kräftigen Schluck daraus nehmen.
„Und mit wem habe ich die Ehre?“, fragt Marx, nachdem er den gut gekühlten Olewiger durch die Kehle hat fließen lassen.
Er sei der Fischer Mathias, entgegnet der ihm. „Kannst mich Maathes nenne, Kalle!“
„Also gut Maathes, dein Wein schmeckt prima, aber so“, Kalle deutet auf die Weinpulle, „schaffste das Abitur nie!“
„Do hast dau Recht, awwer dat maacht neist, wenn eisch de Schul net schaff, dann maachen eisch en Geschäft off – in der Fußgängerzoohn (okay, letzteres hat der Herrmann jetzt eindeutig erfunden, die Fußgängerzone gab’s damals natürlich noch gar nicht). Onn dann maachen eisch mir schlaue Gedanken onn trinken jeden Daach en gouden Wein. Weil: Der Wein bestimmt das Bewusstsein! Zum Wohl! – Mensch, Kalle, wat maachst dau dann lo?“
Karl hat ein Notizbuch gezückt und schreibt eifrig etwas hinein: „Ich notiere mir ein paar der Sachen, die du gesagt hast, Maathes, ich glaube nämlich, dass ich die noch mal gebrauchen kann.“
„Jo, mach nur!“

Schon damals lernte also Marx, dass ein guter Wein den Marxismus voranbringen kann, zumindest sloganmäßig. Und seine Vorliebe für guten Wein, auch wenn ein ordentlicher Moselriesling schwer zu kriegen war (und ist) in London, behielt der Marxens Karl ein Leben lang bei, wenn auch, wie ich jetzt Dank Backes Herrmann weiß, mehr aus intellektuellen Gründen als aus kulinarischen.

Was ich nicht gedacht hätte, ist, dass das Interesse vom Backes Herrmann für den Marxens Karl so weit geht, sich sogar eine Marx-Ausstellung anzusehen. Wohlgemerkt: Der Herrmann hat keine neue Freundin, die ihn da mit hinzerrt. Nein, er macht das freiwillig und verbindet „diese Pflichtaufgabe eines jeden aufrechten Trierers“ mit dem missionarischen Vergnügen, auch mir, der ich ein hoffnungsloser Marx-Banause bin, den berühmten Trierer näher zu bringen.

Wir also letzte Woche ins Stadtmuseum Simeonstift zur Ausstellung „Ikone Karl Marx„. Ich sag’s euch: Da war ich nicht zum letzten Mal, da gehe ich irgendwann nochmal hin und nehm‘ den Meier Kurt und et Hildegard mit.

Es ist verblüffend, was alles mit einem gemacht wird, wenn man erst mal zu einer ordentlichen Ikone geworden ist. In der Ausstellung gibt’s unter anderem wunderbare Karl-Marx-Obstschüsseln zu sehen („Da musste man erst mal die Bananen und Äpfel wegessen, bevor man die Birne von Marx sah“, witzelte der Herrmann) oder eine überdimensionale Karl-Marx-Blumenvase, in der sich ein paar Geranien sicher gut machen würden.

Et Hildegard wird begeistert sein von dem „Karl Marx als Flitzer“, einer kleinen Bronze-Statue von Alfred Hrdlicka, die einen freien Blick auf Marxens Mäxchen bietet (dessen Form, soweit Herrmann weiß, allerdings nicht wirklich verbürgt ist – es sei denn, es existieren irgendwo noch Marx-Fotos, die seine Familie damals aus verständlichen Gründen unter Verschluss hielt und an die Hrdlicka irgendwie rangekommen ist). Oder noch besser für et Hildegard: In der zweiten Ausstellungsebene zeigt gleich das dritte Bild vorne rechts einen Karl Marx in sehr schmeichelhafter Darstellung (von 1981 [!], von A. Pavlovic Levitin), mit dem Rücken vor einem offenem Fenster stehend, eine Zigarre rauchend und in den Raum zurückblickend. Ich belausche zwei durchaus seriös wirkende, sehr geschmackvoll gekleidete Frauen, die versonnen vor diesem Portrait stehen und laut seufzend überlegen:

„Mensch, da ähnelt der Marx doch dem, na, wie heißt der noch, der immer so erotisch guckt?“
„Ja, ja, genau, ich weiß, wen du meinst! Ja, der Clooney!“
„Richtig, Clooneys George! Genauso sieht der Marx hier aus. Also mein lieber Scholli! Also da hat er was, der Marx!“

Und sie drehen nochmal schmachtend die Köpfe, als sie zu den nächsten ikonographischen Darstellungen weiterschlendern. Ich aber verweile noch eine Weile vor dem Bild; der Herrmann gesellt sich zu mir, sieht das Portrait und meint doch tatsächlich: „Oha, wen schaut er denn da an, der alte Schwerenöter. Und was er da in der Hand hält ist doch sicher die ‚Zigarre danach‘!“

Der Backes Herrmann hat’s doch tatsächlich geschafft, mich in den Bann zu ziehen und mich mit ihm zusammen auf die Suche zu machen – nicht nach der weltberühmten Ikone Karl Marx, sondern nach dem Trierer „Jong“, dem Marxens Karl. Und dabei kommt man ganz schon herum, wie schon die nächste Kolumne in einer Woche zeigen wird.

Print Friendly, PDF & Email

von

Schreiben Sie einen Leserbrief

Angabe Ihres tatsächlichen Namens erforderlich, sonst wird der Beitrag nicht veröffentlicht!

Bitte beachten Sie unsere Kommentarrichtlinien!

Noch Zeichen.

Bitte erst die Rechenaufgabe lösen! * Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.