Cevapcici an Kastanienblüten

Frank P. Meyer erinnert (sich) an den Biergarten der Trierer Löwenbrauerei. Foto: Christian JörickeManchmal wüsste ich gerne, was so in einem menschlichen Gehirn vor sich geht, wie zum Beispiel in meinem. Ich saß nämlich neulich gemütlich vorm Kesselstatt in diesem Biergarten, der gar nicht so genannt werden darf, weil man ja Wein trinkt, da bekam ich plötzlich Heißhunger, und zwar auf Tschewapptschitschi mit Pommes und Bier. Jetzt sag mir einer, wieso das Gehirn, denn das ist ja wohl Schuld, einem so einen Unsinn funkt! Doch dann sah ich, dass von den uralten Bäumen, die dort vorm Kesselstatt stehen, Blüten auf meinen Tisch gefallen waren und mein Weinglas nur um Zentimeter verfehlt hatten – und ich verstand!

„Sag mal Herrmann, was ist eigentlich aus diesem Biergarten da oberhalb vom Amphitheater geworden?“ Bei dieser Frage wurde Herrmanns Blick ganz wässrig und die Oberlippe zitterte, und er erzählte mit gebrochener Stimme etwas von „typisch Trier“ und „das Brauhaus und die schöne alte Bierstube dem Erdboden gleichgemacht“, und ich brauchte eine Weile, bis ich verstand, dass er nicht von den Folgen eines Kriegs oder Erdbebens sprach, sondern nur von denen des städtischen Bebauungsplans.

Kennen Sie noch den Biergarten der Trierer Löwenbrauerei in der Bergstraße? Tja, tut mir Leid, dann sind Sie schon mindestens so alt wie ich! Ich war zum ersten Mal in diesem schönsten Biergarten zwischen Flensburg und Berchtesgaden im Mai 1984, also vor genau 30 Jahren. Es war mein erstes Sommersemester in Trier und ein Kumpel in höherem Semester meinte, ich sei kein echter Student, wenn ich meine Abende nicht im Biergarten verbrächte. Man musste ihn nicht näher bezeichnen, es war einfach: „der Biergarten“.

Lange Reihen von Biertischgarnituren standen unter genau siebzehn großen Kastanienbäumen. Von Baum zu Baum hingen Kabel mit bunten Glühbirnen, in denen die Farbe abblätterte. Das Bier, das in Halbliter-Steinkrügen gebracht wurde – kleinere Maßeinheiten gab es meines Wissens nicht, oder ich habe sie ignoriert – wurde gleich nebenan gebraut; auf dem Weg zum Biergarten kam man an den Gebäuden mit den beeindruckenden Kupferkesseln vorbei. Durch riesige Glasscheiben konnte man die Brauanlagen sehen und das Gebräu riechen. Man hatte schon tüchtig Durst, bevor man überhaupt auf einer Bierbank saß.

Aber man hatte auch Hunger. Gott sei Dank! Denn im Löwenbrauerei-Biergarten gab’s, na?, richtig: Tschewapptschitschi. Mit Pommes. Und einer vertretbaren Menge Krautsalat als Beilage. Für drei Mark fünfzig. Vielleicht waren es auch fünf Mark, aber in der nostalgischen Rückschau fühlt es sich an wie 3,50 DM (offen gestanden fühlt sich in der nostalgischen Rückschau alles so an, als ob es vorm Euro 3,50 DM gekostet habe), jedenfalls weiß ich, dass ich auch am Monatsende immer noch genug Geld für zwei Steinkrüge Löwenbräu und Tschewapptschitschi übrig hatte. Eigentlich handelt es sich bei Tschewapptschitschi ja um Fleischröllchen aus Hackfleisch. Die Löwenbrauerei-Röllchen aber wurden wahrscheinlich aus aufgeweichtem Pappendeckel und trockenen Sägespänen zusammengepresst. Und? Hat uns das gestört? Nein! Der Geschmack kam sowieso von der scharfen Balkansoße, die großflächig und gnadenvoll über die Fleischröllchen und die Pommes verteilt wurde. Man wollte nicht hungrig trinken und für 3,50 DM war das Essen okay.

Und die Bedienung! Die war einfach: grauenvoll. Jedenfalls nach heutigen gastronomischen Maßstäben. Nie wieder bin ich von einer Kellnerin so angeraunzt worden, wie von dieser kleinen Dunkelhaarigen, wenn sie zum Beispiel den bestellten Steinhumpen brachte und feststellen musste, dass man den vorigen noch nicht ausgetrunken hatte. Sie hieß Christel oder so, und sie hatte, ganz ehrlich, an jedem Finger einen! Also Humpen. Auch der Backes Herrmann meint sich zu erinnern, dass sie problemlos zehn Krüge auf einmal heranschaffte, die sie grimmig verteilte (vielleicht ist diese Erinnerung auch nur dem Mythos geschuldet, der sich um den Biergarten rankt). Jedenfalls wurde ich damals von der Zehn-Krüge-Christel an den rauen Trierer Charme gewöhnt, den ich bis heute liebe.

Das einzige Problem war, dass von den Kastanienbäumen immer was runterfiel. Mal Blüten, mal Blätter, mal Kastanien – je nach Saison. Man hatte aber nur einen einzigen Bierdeckel (mehr rückte Christel nicht raus), um sein kulinarisches Gedeck zu schützen. Den Deckel musste man also entweder nutzen, um a.) das Bier zu schützen oder b.) … also a.). Bierdeckel auf den Krug, bei Bedarf schnell einen Schluck nehmen, und Deckel wieder drauf. Es fiel dann eben alles ins Essen, was von oben kam. Im Mai ging das noch, da waren’s nur die Blüten. Schmeckte gar nicht so übel, diese Kombi: Tschewapptschitschi an Kastanienblüten. Ich glaube, die einzigen Vitamine, die ich im Sommer 1984 meinem Körper zuführte, stammten aus herabfallenden Kastanienblüten.

Ja, ich gebe zu, ich war in jenem Sommer öfter im Biergarten der Löwenbrauerei als in der Vorlesung zur Mittelhochdeutschen Lautverschiebung. Und? Hat es mir etwa geschadet? „Ja“, werden einige nicht ganz zu Unrecht sagen, „deshalb müssen wir jetzt diese bescheuerte nostalgische Kolumne“ … aber lassen wir das.

Ich habe schon mindestens ein Vierteljahrhundert kein Tschewapptschitschi mehr gegessen. Ohne Kastanienblütenbeilage kriege ich das Zeug einfach nicht runter.

(Anm. d. Red.: Vielen Dank an das Tabakforum „Ante Porta“ für die Leihgabe der Biergartengarnitur)

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