„Bist du verrückt? Die werfen Steine nach Dir!“

Merten1923Der Trierer Michael Merten ist von der Mosel aus zu einer zweimonatigen Radtour aufgebrochen, die ihn zunächst nach Rom und Athen führte (wir berichteten). Nach fast 3000 Kilometern auf dem europäischen Festland kam er per Flugzeug in Israel an – und musste dort feststellen, dass der kleine Staat definitiv nicht das gelobte Land für einen Radreisenden ist. Im zweiten Reisebericht schildert der 29-Jährige seine Erfahrungen mit den scharfen israelischen Sicherheitsbestimmungen und seinem Abstecher ins Westjordanland. Dort erlebt Merten eine Herzlichkeit, wie sie ihm auf seiner gesamten Tour nicht begegnet ist. Menschen schenken ihm frisches Obst und bringen gekühltes Wasser, und schließlich darf der Trierer seinen Draht- gegen einen leibhaftigen Esel eintauschen.

„Wohin genau wollen Sie reisen? Kennen Sie jemanden in Israel?“ Diese Sätze klingen wie eine freundliche Unterhaltung mit einem Sitznachbarn. Doch in Wirklichkeit ist es eine Art Verhör. Ein Verhör, das mein ohnehin bereits äußerst angespanntes Nervenkostüm vor eine gewaltige Bewährungsprobe stellt. Dabei hatte dieser letzte Tag in Athen so gut begonnen. Endlich auf nach Israel! Mit Vorfreude war ich bereits drei Stunden vor dem Abflug nach Tel Aviv am Airport von Athen eingetroffen. Mein Rad, für das ich ein 70-Dollar-Zusatzticket erworben hatte, ist in Plastikfolie eingewickelt, der Lenker quergestellt und die vier Radtaschen sowie zwei Packsäcke mithilfe von Müllsäcken und Packgurten äußerst effizient zu einem Bündel verwoben. Ich hatte meine Hausaufgaben gemacht! Doch dann kamen die Mitarbeiter von El Al, der Fluglinie mit dem Davidstern, wohl die strengste Airline der Welt.

„Nein, das Fahrrad können Sie so nicht aufgeben, Sie brauchen eine Radbox“, ist die sture Ansage des Counter-Personals. Meine gute Laune schmilzt dahin wie der Druck meiner Reifen, die ich vorschriftsgemäß entleeren musste. Nach zwei nervenaufreibenden, von Verhandlungen und Verzweiflungen gespickten Stunden habe ich mein Hauptproblem endlich gelöst – das Rad darf mit. Jetzt also nur noch der Sicherheitscheck. „Wann ist denn Ihr Rückflug, können Sie mir Ihre Unterlagen zeigen?“ (Ja, ich besitze ein Ticket und will nicht illegal im Land bleiben). „Ach, Sie sind Journalist? Können Sie mir eine Internetseite nennen, wo man das überprüfen kann?“ (Klar, ich nehme an, Sie kennen 16vor? Nein?). „Wie finanzieren Sie diese Reise denn überhaupt?“ (Das ist eine wirklich gute Frage…) Fragen über Fragen muss ich über mich ergehen lassen, jedes einzelne Gepäckstück wird eingehend untersucht. Ich fühle mich an den Checkpoint Charlie zurückversetzt…

Merten2009Doch es ist nicht die DDR, in die ich einreisen will. Es ist der Staat Israel, das „Gelobte Land“, spirituelle Heimat für Juden, Christen und Muslime. Mein Ziel Jerusalem, die Tochter Zion, Stadt des Herrn, ist in greifbare Nähe gerückt, als ich aus dem Flugzeug trete. Ich bin in jenem Land, in dem Milch und Honig… na ja, zumindest der Verkehr fließt sehr gut ab auf den vielspurigen Straßen. Das gelobte Land? Was daran so gelobt sein soll, erschließt sich mir zunächst einmal nicht. Meinen ersten Eindrücken nach ist Israel vor allem eins: ganz anders, als ich es aus vielen europäischen Ländern gewohnt bin.

Israel ist anders. Anders aus Sicht eines Radreisenden. Es ist ein Autoland, in dem der PKW – mit Ausnahme weniger urbaner Zentren wie Tel Aviv – maßgeblich die Mobilität der Menschen dominiert. In der Schweiz gab es sogar noch etwas, das sich „Radwege“ nannte. Ich habe es in ferner Erinnerung: Wege, die nur von Fußgängern und Radfahrern genutzt werden dürfen. In Italien und Griechenland nahm die Zahl solcher Wege drastisch ab, dafür eröffneten sich mir neue, in Deutschland unvorstellbare Perspektiven (so lauteten zahlreiche Tipps, wenn ich nach dem Weg fragte: „Fahr doch einfach über die Autobahn, wen stört das?“). Und ich bin dort Autobahn gefahren: Ich war ja abgebrüht genug, und es war schnell, aber es hat nicht immer Vergnügen bereitet. Immerhin: Meistens konnte ich in beiden Ländern auf kleineren, mäßig befahrenen Landstraßen radeln.

Solche Landstraßen gibt es auch in Israel, doch meistens bleibt mir, wenn ich nicht gravierende Umwege fahren will, nichts anderes übrig, als auf den großen, vier- oder noch mehr -spurigen Straßen zu fahren – immerhin mit Seitenstreifen. Das geht fast immer gut. Fast immer. Jedoch nicht am ersten Tag. Vom Flughafen aus sehe ich nur eine Möglichkeit, um nach Tel Aviv zu kommen: Die vielbefahrene Road Nr. 1. Der Knackpunkt sind hierbei die Abfahrten, wenn sich die rechten Spuren trennen und ich zwei von bis zu fünf Spuren überqueren muss, um auf den Seitenstreifen am rechten Rand zu kommen. Kurz bevor ich in Tel Aviv ankomme, kollidiere ich mit einem plötzlich aus dem Nichts auftauchenden Motorroller. Mir passiert nichts, doch meine rechte Fronttasche wird weggeschleudert, gerät unter ein Auto und wird fort geschleift. Trotz intensiver Suche kann ich sie nirgends wiederfinden, weshalb mir das wertvolle Kochzubehör und einige Bücher verloren gehen. Meine Pechsträhne von Korinth verfolgt mich also weiter. Entsprechend schlecht gelaunt komme ich in Tel Aviv an und gönne mir erst einmal drei Tage Ruhe und Relaxen am Strand.

Merten2134Israel ist anders. Das zeigt sich an wesentlichen Details des alltäglichen Lebens. Da sind die Sicherheitschecks – nicht nur an Flughäfen, sondern auch an Bahnhöfen, Einkaufspassagen und vielen anderen Orten. Da sind, dank eines Grundwehrdienstes von drei Jahren für Männer und zwei Jahren für Frauen, die überall präsenten Soldaten und Soldatinnen, die ihre Maschinengewehre selbst nach Feierabend mit nach Hause nehmen. Da ist die fast selbstverständliche Präsenz von kriegerischen Auseinandersetzungen, etwa an der syrischen Grenze: Als ich durch die Golanhöhen radle und dem Nachbarland auf wenige Kilometer nahe komme, höre ich die Geräusche des Kampfes, steigen Qualmwolken über den Bergen auf – es ist ein furchtbares Gefühl, denn dort drüben sterben vermutlich gerade Menschen! Da sind die vielen Checkpoints rund um das Westjordanland, die teilweise zu den unterschiedlichsten Zeiten schließen, nur bestimmte Personengruppen durchlassen und das Reisen deutlich verkomplizieren. Für Israelis sind die Gebiete unter palästinensischer Selbstverwaltung ein rotes Tuch; große rote Schilder warnen bei Lebensgefahr davor, bestimmte Straßen zu benutzen.

„Are you crazy?“ ist denn auch die erste Reaktion eines Soldaten, den ich frage, wie ich nach Ramallah komme. „Die werfen Steine auf dich“, ist die Standardwarnung vieler Israelis, wenn ich von meinen Reiseplänen erzähle. Nein – ich bin nicht verrückt. Ich bin bloß nicht Teil dieses Konflikts, also lasse ich mich von diesen Warnungen genauso wenig einschüchtern wie von jenen Norditalienern, die mich vor dem Besuch Neapels derart bildreich warnten, als hätten sie gerade eben noch „Willkommen bei den Sch’tis“ gesehen. So stehe ich also eines Abends vor dem Checkpoint bei Jenin im nördlichen Westjordanland. Ich will in Zababde, einem kleinen Dorf, bei dem griechisch-melkitischen Abuna (Priester) Firas Khoury Diab, den ich in Nazareth kennengelernt habe, übernachten. Doch der Checkpoint schließt um 19 Uhr, und obwohl ich um 18.55 vor dem Tor stehe, will man mich nicht mehr durchlassen. Ich warte zusammen mit einigen Palästinensern geschlagene zwei Stunden, weil man uns signalisiert hat, vielleicht doch noch eine Ausnahme machen zu wollen. Die Zeit verrinnt nur langsam, und ich sehne mir Hans-Dietrich Genscher herbei: „Ich bin gekommen um Ihnen mitzuteilen, dass Ihre Ausreise…“ Doch stattdessen kommt ein Soldat und teilt mir mit, dass das heute nichts mehr wird, ich soll am nächsten Morgen um 6 Uhr wiederkommen (tatsächlich wird es zwar 8 Uhr, bis ich passieren kann, aber wir wollen ja nicht so pingelig sein…). Immerhin lädt mich im nächsten arabischen Dorf der junge Mohammed zu einem leckeren Abendessen samt Übernachtungsmöglichkeit auf dem Dach (bei 40 Grad Tagestemperatur keine schlechte Idee) ein.

Merten1982Dann passiere ich die Grenze, und niemand wirft Steine nach mir. Im Gegenteil: Meine Reise durch das Westjordanland ist der mit Abstand herzlichste und gastfreundschaftlichste Abschnitt meiner gesamten Tour. So etwas habe ich nicht erwartet, und so etwas habe ich noch nie zuvor erlebt. Die Menschen an den Straßen bereiten mir einen freundlichen Empfang, winken mir zu, begrüßen mich mit einem freundlichen „Salam aleikum“, rufen mich zu sich. Dutzende Palästinenser wollen mehr über meine Reise erfahren, schenken mir frisch gekühltes Wasser, schenken mir Obst, schenken mir ihre Herzlichkeit. Ein Bauer lässt mich auf seinem Esel reiten. Es ist wie im Paradies! Auch mein Freund Abuna Firas heißt mich herzlich in seinem Dorf, in dem noch 3000 Christen leben, willkommen. Er ist ein tatkräftiger Mann, der mit seiner Frau Doris und den drei Söhnen in einfachen Verhältnisse lebt. Er hat einige Hilfsprojekte angestoßen und erklärt: „Nur die Liturgie beten und glücklich sein, das ist nicht genug. Wir müssen uns für die Würde der Armen die Hände schmutzig machen“. Es geht dabei nicht darum, Almosen aus dem Ausland zu bekommen.

„Wir brauchen hier keine Spenden, sondern Zusammenarbeit mit den Christen in Europa“, sagt Firas. Sein Konzept: Weil die palästinensischen Olivenbauern starken handelsrechtlichen Restriktionen unterworfen sind, kauft er im Namen der Pfarrei deren Olivenölseife auf und verkauft sie im Ausland. Firas will den Menschen, die immer öfter die armen Regionen verlassen und ihr Heil in größeren Städten wie Ramallah suchen, Hoffnung geben und Perspektiven bieten. Der Araber beklagt die Folgen der Besatzung: Strenge Reisebestimmungen, den Neubau zahlreicher Mauern und Checkpoints, den Abriss wertvoller Olivenbäume für den Bau von Siedlungen. Abuna Firas ist ein Mensch, der Brücken statt Mauern bauen will: „Ich liebe die Juden genau so sehr wie ich hasse, was sie meinem Land antun. Wir müssen sie davon überzeugen, dass wir Brüder und Schwestern sind.“

Den ersten Teil des Reisebericht finden Sie hier: „Mit jeder Panne wuchs die Gelassenheit“

Michael Merten

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