„Mit jeder Panne wuchs die Gelassenheit“
Zwei linke Hände, keinerlei Tour-Erfahrung und die Aussicht auf Außentemperaturen von häufig über 40 Grad – eigentlich nicht die besten Voraussetzungen, um zu einer zweimonatigen Radreise in den Süden zu starten. Der Trierer Michael Merten ist dennoch am 1. Juli in von der Mosel aus aufgebrochen, um vom „Rom des Nordens“ über das „Trier des Südens“ – besser bekannt auch als „Ewige Stadt“ – ins Heilige Land zu radeln. Aus Nazareth lieferte er 16vor am Donnerstag einen Zwischenbericht über seine ersten 2950 Kilometer bis Athen. Der 29-Jährige berichtet von gerissenen Ketten, einem Sturz vor Korinth und von vielen beeindruckenden Begegnungen. Die für ihn erstaunlichste Erkenntnis auf seiner Reise nach Jerusalem: Mit jeder Panne und jedem schweißtreibenden Anstieg wurde es für ihn entspannter.
Es läuft eigentlich alles verdammt gut! Dieser Gedanke geht mir durch den Kopf, wahrend ich mich dem Kanal von Korinth nähere. Es ist der 36. Tag meiner Radreise, seit rund 30 Minuten sitze ich auf dem Rad. Weil ich mir mit dem Zelt abbauen Zeit gelassen hatte, ist es bereits 9 Uhr morgens und ziemlich heiß – die griechische Sonne kennt im August kein Erbarmen. Doch das kann mich nicht erschüttern, schließlich will ich noch am selben Tag in Athen ankommen, nach Rom das zweite große Ziel meiner Tour, die mir zwar einige platte Reifen und gerissene Kettenglieder, aber keinen einzigen Sturz oder gar eine Verletzung beschert hat. Mein Grübeln über die Zwischenbilanz wird jäh, fast auf zynische Art unterbrochen. Über die berühmte Schiffspassage von Korinth führt eine mit Holzplanken ausgestattete Hebebrücke. Einheimische wissen: Hier steigt man als Radfahrer besser ab, denn die Abstände zwischen den Holzplanken sind größer, als man es auf den ersten Blick einschätzt.
Ich bin aber kein Einheimischer. In Windeseile verfängt sich mein Vorderrad, ich mache einen Satz und lande rücklings auf den Planken. Welch ein dummer Anfängerfehler. So endet meine unfallfreie Zeit auf dem Rad nach rund 2900 Kilometern. Doch ich bleibe erstaunlich gelassen – mir ist ja selbst nichts passiert, nur das Vorderrad ist demoliert. Diese Gelassenheit, mit der ich auf Pannen und – nach einigen Wochen auf italienischen Straßen – auf drängelnde LKW reagiere, ist für mich selbst eine der größten Überraschungen. Denn in den vergangenen Monaten, ja noch während der ersten Tage unterwegs war ich deutlich angespannter und skeptischer. Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt: Ist es eine gute Idee, eine zweimonatige Radreise zu planen, wenn man noch keine Tour-Erfahrung hat, über zwei linke Hände verfügt und für das Auswechseln eines defekten Schlauchs schon mal eine geschlagene Stunde braucht? Vermutlich lautet die Antwort: eher nein. Doch aller Skepsis zum Trotz lasse ich mich auf das Abenteuer ein – und werde reichlich dafür belohnt. Mit beeindruckenden Städten, etwa Basel, Zürich, Bergamo, Bologna, Florenz, Siena, Rom, Neapel und Athen, um nur die größten zu nennen. Und mit wunderschönen Momenten.
Momenten wie jenem am Abend des 9. Tages. Zusammen mit meinem Mitbewohner Stefan, der mich bis Rom begleitet, sind wir an diesem Tag im schweizerischen Chur aufgebrochen. Vorbei an der Via-Mala-Schlucht, schlägt gegen Nachmittag die Stunde der Wahrheit: Nach mehreren Hundert Höhenmetern stehen wir vor dem Splügen-Pass. Das sind noch einmal 700 Höhenmeter auf einer Strecke von 9 Kilometern bis zum Gipfel. Mit rund 6 Km/H quälen wir uns die Serpentinen hinauf – unser Schweiß, der uns tropfenweise vom Gesicht kullert, scheint deutlich schneller zu sein als wir selbst, was ziemlich frustrierend ist. „Der härteste Scheiß kommt zum Schluss“, ruft mir Stefan zu, als er den letzten Anstieg angeht. Doch gegen 19.30 Uhr haben wir es geschafft: Wir sind über den Berg und in bella Italia angekommen, vor uns liegen jetzt zig Kilometer schneller, kurviger Abfahrten – die Bewährungsprobe für unsere Bremsen.
Nach 19 Tagen stehen wir schließlich vor den Toren Roms. Über die Via Trionfalis radeln wir in die Stadt, und wie einen Triumphzug hatte ich mir das Ganze auch vorgestellt. Doch die Ankunft in der „Ewigen Stadt“ ist sehr irdisch: Es regnet in Strömen, und zu allem Überfluss reißt mir auch noch die Kette. Fix und fertig erreichen wir um 22 Uhr unsere Unterkunft. Doch am nächsten Morgen strahlt die Sonne wieder, und auf den letzten Kilometern, mit dem Petersdom im Blick, werde ich von einem erhebenden Gefühl getragen. Ich bin schon mehrfach in Rom gewesen und habe stets die besondere Atmosphäre dieser Stadt genossen. Aber jetzt, nach 1600 schweißtreibenden Kilometern, aus eigener Kraft hierher gelangt zu sein, ist ein bewegendes Gefühl, das mich für einen Moment mit der Fassung ringen lässt.
Stefan sitzt derweil schon im Zug; um sein Ticket für die 26-stündige Fahrt zu bekommen, hat er drei Stunden bei der italienischen Bahn verbracht – die Mitnahme eines Fahrrads, noch dazu über die Grenzen des Landes hinaus zu organisieren, ist selbst im 21. Jahrhundert eine kaum lösbare Aufgabe. Für mich geht es allein weiter in Richtung Neapel und Bari. Ich zweifle: Werde ich mich im berüchtigten Süden Italiens allein behaupten können, wenn jeder Gang zum Supermarkt, ohne dass der Begleiter die Räder überwacht, eine sicherheitstechnische Herausforderung ist? Obwohl ich noch am selben Tag im strömenden Regen einen Schlauch wechseln muss (was selbst mir untalentiertem Menschen mittlerweile zur Routine geworden ist), verfliegen diese Zweifel schnell. Denn auf mich allein gestellt, komme ich noch viel schneller in Kontakt zu den Einheimischen.
Die für mich, den am liebsten generalstabsmäßig organisierten Deutschen, wohl erstaunlichste Erkenntnis ist: Ohne Hostelbuchungen im Voraus und penibel festgelegte Routen läuft es am besten! Immer vorausgesetzt, dass man auch mal bereit ist, sein Zelt irgendwo in der Pampa (ohne Dusche und Toilette) aufzustellen. Doch meistens tun sich überraschend Türen auf, findet man in letzter Minute eine Bleibe, etwa im Garten von Einheimischen oder in einem Pfarrhaus – ganz zu schweigen von vielen Couchsurfing-Abenden. Ich erlebe sehr oft eine Gastfreundschaft, die von Herzen kommt. Viele dieser Begegnungen wirken noch lange nach; es sind weniger die Orte als vielmehr die vielen interessanten Menschen, die meine Tour prägen.
Menschen wie Satish, der an einem Strand vor Neapel die Liegen für die Badegäste bereitstellt. Nach einem freundlichen Gespräch bietet er mir sofort eine Herberge für die Nacht an. Der Inder hat, wie viele Afrikaner, mit denen ich gesprochen habe, keine Papiere – spricht aber ein deutlich besseres Englisch als die meisten Italiener, denen ich begegne. Satish wohnt mit anderen Landsleuten hinter einer Autowaschanlage. Seine Freunde arbeiten dort für 80 Euro pro Monat schwarz, ihre Baracke wird durch einen Blechzaun vor neugierigen Blicken verborgen. In dieser eher simplen Behausung erlebe ich einen der herzlichsten Abende mit indischem Essen und Bollywood-Filmen. Da sind Diego, Luciano und der kleine Tiago in Italien, die uns mit einem Drei-Gänge-Menue verwöhnten. Da ist Konstantin, der Grieche, der mich nach der Panne von Korinth mit dem Rad in der Hand auf der Straße stehen sieht. Er fährt mich nicht nur zum nächsten Radladen, sondern bringt mich auch noch zur Unfallstelle zurück, trinkt einen Kaffee mit mir und zeigt mir seine Gegend. Danach setze ich meine 36. Etappe fort, und nach 2943 Kilometern stehe ich auf dem Hügel der Akropolis von Athen.
Dieser Anblick macht alle Pannen, alle Anstiege in der prallen Sonne mit zu Ende gehenden Wasserreserven, alle schier endlosen Fahrten durch öde Landstriche oder viel befahrene Straßen und sogar die italienischen Autofahrer wett. Ich fühle mich bereit für die nächste Etappe – das Heilige Land kann kommen!
Michael Merten
von 16vor