„Kunst ist hier das Wichtigste“

Die seit sieben Jahren bestehende „Nomaden-Hochschule“ des Cross-Border-Networks of History and Arts unter der Leitung der Trierer Hochschul-Professorin Anna Bulanda-Pantalacci macht in diesem Jahr vom 2. bis 13. April Station im luxemburgischen Differdange. Am Donnerstag gipfelt das von der Europäischen Union geförderte Projekt in einer abendlichen Ausstellung in der neu gegründeten Kreatiffabrik, die aus ehemaligen Produktionsräumen des Stahlkonzerns Arcelor-Mittal hervorgehen soll. Bis dahin arbeiten über 130 Studierende und 27 Pädagogen und Künstler aus ganz Europa und Nordamerika in acht Workshops an ihren Konzepten, die in diesem Jahr unter dem Titel „Migration“ stehen.

DIFFERDANGE. Nein, ihren Reisepass kann Stephanie Cohen nicht leiden. Was ihrer Ansicht nach damit bezweckt werden soll, ist die lustlos-kaltherzige Quittierung eines Aufenthalts, der für sie keiner bürokratischen Logik folgt, sondern vielmehr mit Gefühlen, Impressionen und Erfahrungen aufgeladen ist. Und deshalb möchte Stephanie dieses Dokument für die zwölf Tage des Cross-Border-Projekts nach ihrer inneren Haltung gestalten: mit Abdrücken der Wege und Gebäude, sie sie gesehen hat, mit Fotos von Menschen, denen sie begegnet ist – mit zufälligen Souvenirs, die in ihrer Gesamtschau ein emotionales Album ihrer Reiseerfahrungen darstellen. Alles Dokumentarische ist dabei unwichtig. Die persönlichen Daten in dem Dokument löscht sie, die als Wasserzeichen abgebildeten Regionen Frankreichs werden von ihr ausradiert, bis sie ihren Wiedererkennungswert verlieren. Es geht um die Idee eines zeitlosen, universellen Reisepasses als Prototyp einer neuen Erinnerungskultur: eine Utopie.

Ein großer Raum im ersten Stock eines alten Fabrikgebäudes: auf den Tischen liegen Zeichenblocks und Malstifte, dazwischen Papierschnipsel und Notizhefte. Professorin Anna Bulanda-Pantalacci hört Stephanie aufmerksam zu, als die gebürtige Französin in akzentreichem Englisch das Projekt mit ihren beiden belgischen Kommilitoninnen Magalie Pirenne und Melissa Charlier der Workshop-Gruppe „Visual Art“ vorstellt. Die Trierer FH-Professorin mit einem Faible für farbenreiche Halsketten sorgt mit ihrem freundlich-zielstrebigen Auftreten nun schon im siebten Jahr dafür, dass eine internationale Studierendenschaft fast zwei Wochen lang ihre kleine Vision mit Leben erfüllt.

Wahrscheinlich gibt es keinen Teilnehmer, für den das diesjährige Sujet „Migration“ so passgenau ist wie für die Chef-Organisatorin selbst. Bulanda-Pantalacci verbrachte ihre Kindheit in einem südpolnischen Ort nahe der Grenze zur Slowakei. Bereits ihre Eltern aus Österreich und Ungarn wuchsen jenseits des Heimatlandes auf und verständigten sich in mehreren Sprachen. Nach ihrem Erststudium an der Kunstakademie in Krakau ging sie nach Bonn, um Geschichte und Kunstgeschichte zu studieren und begann dort auch ihre akademische Karriere. Danach zog sie die Liebe nach Frankreich, wo sie einige Zeit mit ihrem Ehemann lebte. Mittlerweile ist sie – sozusagen als multiple Migrantin – seit nunmehr 20 Jahren in der Moselstadt, arbeitet als Dozentin für Kommunikationsdesign sowie als Erasmus- und Kulturbeauftragte in Personalunion an der hiesigen Hochschule.

Der Fokus der diesjährigen Cross-Border-Ausgabe ist ihr also auch in besonderer Weise ein persönliches Anliegen. Dabei scheint sich bei einem Rundgang über das Veranstaltungsgelände ein anderes Thema anzubieten: Konversion. In Künstlersprache würde dies indes heißen: Transformation. Bei den Örtlichkeiten handelt es sich um einen stillgelegten Teil der Arcelor-Mittal-Werke im luxemburgischen Differdange – ein industrieller Koloss, der bei vollständiger Abwicklung wohl „Differdinger Hotel“ heißen wird, wenn in Völklingen heuer eine Hütte steht. Der Stahl-Riese entband den drei Gebäude umfassenden Komplex bereits vor geraumer Zeit von der restlichen Produktionsanlage, nun sollen in den alten Fabrikräumen Künstlerateliers entstehen – das Cross-Border-Network als Pilotprojekt für eine dauerhafte kulturelle Nutzung in der Zukunft.

Ähnlich Evolutionäres gibt es auch im benachbarten Belval-Université zu besichtigen, Schlaf- und somit zweiter Schauplatz der Kurzzeit-Akademie. Hier wird gerade ein ganzer Stadtteil aus dem Boden gestampft, der ab nächstem Jahr die verschiedenen Fakultäten und Studierenden der Luxemburger Universität beherbergen soll. Dem interessierten Besucher drängt sich bis jetzt ob der surreal-funktionalen Stadtgestaltung mit einer Vorliebe für Baukasten-Optik und lineare Straßenverläufe der Eindruck einer Cyberspace-Illusion auf.

Das sieht Yvonne Sommer genauso. Die Trierer Innenarchitektur-Studentin arbeitet in dem Workshop „Photography Artistic & Documentary“ an dem Versuch, architektonische Bauten als Projektionsflächen für Fragen zu benutzen, die sich im Zusammenhang mit dem Phänomen Migration stellen. Dafür möchte sie beispielsweise den nach perfektionistischer Ordnung heischenden Gebäuden des Belval-Université mittels Photoshop kleine Makel einbauen und gleichfalls in umgekehrter Weise einer verdreckten wie verwahrlosten Wendeltreppe eines 50er-Jahre-Baus von Differdange per Mausklick eine völlig saubere Stufe einfügen. Den Betrachter sollen die Inseln im Bild aufmerksam machen: Finde ich es gut, dass eine Stelle im optischen Kontrast zum Rest steht? Fange ich an, auch in anderen Bildern nach Makeln zu suchen? Was empfinde ich als künstlich?

Yvonne bekam den Impuls für dieses Projekt durch die Unterbringung im luxemburgischen Studentenviertel in spe: „Das ist wie ein goldener Käfig, aus dem auch wir erst mal mental herauskommen müssen, um uns auf die Projektarbeit einlassen zu können.“ Bei einem solchen Statement bekommt auch das diesjährige Projektmotiv zweier Zugvögel eine andere Deutung – mehr als die Lust am Reisen ist die Flucht aus beklemmenden Verhältnissen die Absicht der Teilnehmer.

Auch dazu ist Bogdan Nowak aus Polen angereist. Der professionelle Pantomime leitet mit seinem Body-Language-Workshop die einzige gemeinsame Projektarbeit aller Teilnehmer – selbst die für die Evaluation zuständige Studienberaterin der Hochschule Trier nimmt an dem im Programmheft als „Happening“ ausgeschriebenen Kurs sichtlich engagiert teil. Noch sind die Performer mit Trockenübungen beschäftigt, am Tag der Vernissage werden sie sich weiße Tonerde auf die Haut auftragen und menschliche Skulpturen darstellen.

Es geht dem Körperkünstler mit Stoffhut neben dem spielerischen Element und dem Effekt einer lebendigen Skulpturensammlung um die Botschaft einer Gleichheit zwischen allen Menschen über Ländergrenzen hinweg. Doch ist es nicht vor dem Hintergrund einer grenzüberschreitenden Akademie gerade das Spannungsverhältnis zwischen Vereinheitlichung über und kulturellen Unterschieden unter der erdigen Fassade, das den Besucher bannt? „Sie müssen selbst entscheiden, ob sie das philosophisch betrachten“, meint Nowak dazu lakonisch.

Kunst, Wissenschaft, technisches Handwerk und also auch die Philosophie – soweit zur Bandbreite, die das Projekt umfasst. Stellt sich die Frage, inwieweit dabei auch methodische Streitigkeiten zwischen den Disziplinen für eine Blockade sorgen können. Michael Heurich vom Professorenteam des „spaceArt“-Workshops weiß davon zu berichten: „Wenn die Kunststudenten in unseren Seminarraum kommen und unsere Plakate mit den Projektideen anschauen, fragen die immer, wo wir den Menschen gelassen haben.“ Der robuste Mann mit Halbglatze lächelt bei dieser Feststellung verständnisvoll. Auch er ist wie Bulanda-Panalacci selbst Migrant mit der Wahlheimat Dublin, wo er am University College Landschaftsarchitektur lehrt.

Wie sich Heurich selbst zu dieser Grundsatzfrage positioniert, wird durch eine Anekdote aus dem letztjährigen Netzwerken klar, von der er lässig wie begeistert erzählt. Die slowakische Architektur-Studentin Barbora Perichtova hielt sich für mehrere Tage mit ihrer US-amerikanischen Kollegin in einem abrissreifen Haus im belgischen Liège zusammen mit illegalen Bewohnern auf und las aus den ehemaligen Apartments Tapetenfetzen auf, die sie beide peu à peu an einer Wand zu einem Mosaik formten: ein Sinnbild für die alte Hausgemeinschaft, die den ökonomischen Gegebenheiten Platz machen musste. Die Umstände ihres Projekts hielten die beiden Studentinnen bis zum Präsentationstag geheim.

Eine derjenigen, die diesen Hang zum Abenteuer und künstlerischem Ausdruck versteht, ist Jennifer Zietek. Die Trierer Hochschulstudentin – Typus Organisationstalent – ist schon zum wiederholten Male die rechte Hand von Initiatorin Bulanda-Pantalacci. Bei aller PR-Rhetorik, die eine Verknüpfung von Wissenschaft und Kultur begründet, ist sie sich der eigentlichen Motivation der Studierenden bewusst: „Natürlich ist die Kunst hier das Wichtigste.“

Die Ausstellung, die nach sechs Stunden beendet sein wird, findet am Donnerstag ab 18.30 Uhr in der Kreatiffabrik in Differdange (115 rue Emil Mark) statt. Weitere Informationen über das Netzwerk finden Sie hier.

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