Vom „Heiligen Rock“ zu bunten Tüchern

Auch Trier hat eine Bronx, und die heißt Thyrsusstraße. Nein, ich muss anders anfangen: Ein Kunstwerk verstehe ich normalerweise nur dann als solches, wenn mir jemand erklärt, dass es eins ist. Nein, so geht’s auch nicht. Noch ein Versuch: Ich komme überhaupt nicht mehr aus Trier raus, denn ich hab jetzt ja Geranien! Ja, so funktioniert’s, so wird eine Kolumne draus. Heute: Stadtteilfest mit Kunstausstellung in Trier-Nord – eine Liebeserklärung an ein schlecht beleumundetes Viertel.

TRIER-NORD. Weil ich letzte Woche zwangsgeranisiert wurde, muss ich jetzt gefühlt dreimal täglich gießen und fünfmal pro Woche düngen. Deshalb kann ich mich nur noch in unmittelbarer räumlicher Nähe meiner Geranien bewegen. Und da es auf Dauer langweilig wird, sich immer nur im Dreieck Dom – Porta – Hauptmarkt aufzuhalten, habe ich beschlossen, mir wenigstens mal ein paar angrenzende Stadtteile anzusehen.

Da hat es mir gut gepasst, als ich erfuhr, dass in der Thyrsusstraße, Trier-Nord, ein Kunstwerk enthüllt wird. Komischer Straßenname. Wer oder was ist Thyrsus? Zum Glück kenne ich einen Theologen! Der weiß zu berichten, dass unter den Typen, die in der Römerzeit Thyrsus hießen, eine relativ hohe Märtyrerdichte herrschte. Einen Thyrsus hätten dessen Peiniger in Apollonia (= in der heutigen Türkei) beinah nicht klein gekriegt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie haben nämlich versucht, ihn in der Mitte durchzusägen. Und zwar nicht quer, sondern der Länge nach. Aber die Säge ist beim ollen Thyrsus nicht mal durch den Dickschädel durchgegangen und sie mussten ihn mit viel Mühe anders umbringen. Und dann gab’s noch einen Thyrsus von Trier, einen Kommandanten, der sich weigerte, mit seiner Kohorte an einer Christenverfolgung teilzunehmen und deshalb mit seiner kompletten Gang umgebracht und in die Mosel geworfen wurde.

Das war von beiden Thyrsussen ein beeindruckender Auftritt, wobei die Straße in Trier-Nord wohl nach dem aus Trier benannt wurde. Egal nach welchem Thyrsus: Der Name steht für einen knallharten Typen, der sich nicht so leicht kleinkriegen lässt und lieber draufgeht, als gegen seine eigenen Überzeugungen zu handeln.

Aber als ich dem Backes Herrmann, der sonst ganz locker ist, erzählte, dass ich in die Thyrsusstraße wolle, guckte der ganz komisch und druckste so sonderbar rum und machte dämliche Witze über die Gegend (z.B. dass das ja direkt beim Beutelweg sei, und der Straßenname käme von „Beutel“ + „weg“, also solle ich ja aufpassen). Und schließlich kamen dem Herrmann, mit einiger Mühe, die Wörter „sozialer Brennpunkt“ über die Lippen.

Ich also in die Thyrsusstraße, letzten Freitag… und das einzige, was da brannte, war ein gemütliches Schwenkbratenfeuer, ein Anblick, der bei mir gleich Heimatgefühle weckte, vor allem, weil dieser Schwenker-Anblick durch den daneben aufgebauten Bierstand harmonisch abgerundet wurde. Wie bei uns auf‘m Dorf. „Hol dir erst mal einen Schwenker – der Ali macht die prima!“, meinte jemand, der mir wohl ansah, wie ich sehnsüchtig über die orangenen Biergartengarnituren hinweg in Richtung Grillplatz blickte.

Auf den Dorffesten bei uns heißen die Typen am Schwenker zwar eher Herbert oder Helmi, aber der Ali hatte das Schwenken mindestens genauso gut im Griff. Und das Gezapfte dazu war ebenfalls „eins A“. Ich kam auch gleich mit einem langhaarigen Typen ins Gespräch, mit dem ich mich prima darüber unterhalten konnte, ob weniger Gefahr besteht, fettige Finger zu bekommen, wenn man den Schwenker zwischen Brotscheiben statt Brötchen klemmt. Das ist wichtig, weil einem sonst das Bierglas durch die glitschigen Finger rutschen könnte! Na also – nach Leuten, mit denen du diese Art existenzieller Gespräche führen kannst, musst du im Domviertel erst mal suchen.

Dann sang der Kinderchor der St. Ambrosius-Grundschule „Die Antwort, mein Freund, weiß ganz allein der Wind“ und andere coole Songs. Und wenn ich ehrlich bin, haben die Ambrosius-Kids harmonischer gesungen als so manche weniger gut eingespielte Pilgertruppe.

Und dann wurde das Kunstwerk enthüllt. Es handelt sich dabei um einen riesigen Würfel (neun Meter hoch), auf dem 152 bemalte quadratische Tücher drauf sind (seit ich in Trier bin, hab ich’s irgendwie dauernd mit Tüchern, „Kiedeln“ und anderen Stoffteilen zu tun), gemalt von etwa 300 verschiedenen Leuten aus Trier-Nord. Der riesige Bilder-Würfel steht auf einem unbebauten Stück Brachland mitten in der Thyrsusstraße, und ich hätte, ganz ehrlich, diesmal auch ohne Erklärbär sofort selbst kapiert, dass es ein Kunstwerk ist. Trotzdem war der Erklärbär prima. Bei selbigem handelte es sich um Stadtratsmitglied Nöhl. Der hat aber gar nicht rumgenöhlt (sorry, blödes Wortspiel, ich fange schon an wie der Backes Herrmann), sondern den Bilderwürfel mit einer richtig guten Laudatio gewürdigt. Er sagte zwar „Kubus“ statt Würfel und drückte sich auch sonst sehr gewählt und metapherngesalzen aus, hatte aber verblüffend gut kapiert, was diese geniale Mischung von abstrakt bis gegenständlich, von farbenfroh bis schwarzweiß, von Vielfalt und Gemeinsamkeit, von lebensfroh bis traurig, von optimistisch bis verunsichert alles ausdrückte. Man hatte nach der Rede richtig Lust, eine halbe Stunde um diesen Würfel (äh… Kubus) zu laufen und in Ruhe die verschiedensten Eindrücke zu sammeln. Ich kann jetzt bei so vielen Bildern nicht auf einzelne eingehen – schaut euch den Tuchwürfel lieber selbst an!

Und ich kam auch mit ein paar der Künstlerinnen und Künstler ins Gespräch. Künstler? Ja, genau, die Leute aus Trier-Nord. „Dat da oben, zweite Reihe, dat bunte, dat hab ich gemalt!“, erzählte mir eine Frau, die am Bierstand Nachschub besorgte. „Ah, dann sind Sie eine der Künstlerinnen!“ Sie sah mich völlig überrascht an, also sagte ich: „Na, wenn’s doch ein Kunstwerk ist, und das ist es doch eindeutig, denn es ist schön und es regt mich zum Nachdenken an und, na jedenfalls, wenn es ein Kunstwerk ist, sind die, die es gemacht haben, doch Künstler!“
Und der Thyrsus-Würfel ist eben ein 300-Künstler-Kunstwerk. Ein Kollektiv-Kunstwerk. Und dann noch eins, zu dessen Enthüllung Bier mit Schwenker besser passen als Sekt und Canapés! Und da wundere ich mich, wie ich mich dabei ertappe, dass ich mich wohlfühle? Eine prima Gegend, diese Thyrsusstraße, wenn auch ein bisschen geranienarm.

Ich hab jetzt jedenfalls ein neues Lieblingskunstwerk in Trier – und schon mit ein paar Leuten klargemacht, dass ich beim nächsten Thyrsusstraßenevent (am 23. Juni) wieder mit dabei bin.

Nachtrag: Der Thyrsus-Tücherwürfel (so nenne ich den jetzt, obwohl „Kubus“ kultiger klingt) steht noch drei Monate! Also los – seht ihn euch an, sogar ohne Bier und Ali’s Schwenker lohnt sich das allemal!

Kolumne vom 29. Mai: „Vielen Dank für die Blumen

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