Sinn und Wahnsinn

Mit seinen 518 Jahren ist „Das Narrenschiff“ nicht gerade das, was man unter einem brandneuen Theatertext versteht. Seit Samstag ist der Stoff am Trierer Theater als zeitgenössische Tanz-Produktion zu sehen, die überzeugend darlegt, warum die Inhalte dennoch aktuell sind. Sven Grützmacher hat die gelungene und überraschende Inszenierung der spätmittelalterlichen Moralsatire zu verantworten, für die der in Trier und New York lebende Künstler Bodo Korsig seine Premiere als Bühnenbildner geleistet hat. Nachhaltig irritierend ist lediglich die musikalische Begleitung.

TRIER. Man ist durchaus gewillt, hier Wagnisse einzugehen, so viel verrät schon der Auftakt. Eine barbusige Frau (Rosa van der Poel) wird am Halsband vor der Bühne entlang geführt, bevor die Trennwand sich hebt und den Blick freigibt auf das, was Bodo Korsig da hingezaubert hat. Ein kahlweißes Dickicht ineinander verschränkter Hölzer begrenzt die Bühne im Halbrund, wie festgefrorenes Treibgut kauern darin Menschenkörper. Am Bühnenrand ein Flipchart, der die Stichworte für die folgenden 80 Minuten vorgibt: Liebe, Geborgenheit, Salafisten, Sicherheit, Analverkehr. Zuvorderst, an der Rampe, ein Loch voll teerschwarzer Plastikbälle, so etwas wie der böse Zwilling des Ikea-Kinderparadieses, dessen Schwärze schluckt, ausspuckt und verschwinden lassen kann.

So frei wie der Trierer Künstler die räumliche Dimension interpretiert, ist Sven Grützmacher – Regisseur, Choreograph und Librettist in Personalunion – der textlichen Vorlage zu Leibe gerückt. Das „Narrenschiff“, die Moralsatire aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert, die immer wieder die Fantasie auch nachgeborener Künstlergenerationen beflügelt hat, nutzt er im besten Sinne als einen Steinbruch. In großer künstlerischer Freiheit befreit er den Stoff vom Ballast der Jahrhunderte und kristallisiert daraus die großen thematischen Linien heraus, so universell, dass sie sich mühelos in die moralischen Diskurse der Gegenwart übersetzen lassen.

Das Dreigestirn aus Bodo Korsig, Sven Grützmacher und Dramaturg Peter Larsen präsentiert den Stoff als ein Kaleidoskop des Menschlich-Allzumenschlichen, ohne dabei den Grundklang der Satire zu verraten: Genaue Beobachtungen, fein gezeichnete Rollen und oft genug witzige Brüche treffen den Ton. Als Reise in das Innere der menschlichen Psyche will die Inszenierung verstanden sein, und dies gelingt anfänglich auch ausgesprochen gut.

Das ganz Körper, ganz gleich seiende Menschenmaterial aus dem Unterholz wird zum Spielball der Figur des Narren (René Klötzer), der als mephistophelischer Verführer an ihnen die Schwächen und Laster der Menschheit durchdekliniert. Das Versprechen der Einzigartigkeit macht aus den Menschen die Leute: Durch ihre Kleidung unterscheidbar geworden (Kostüme: Gabriele Kortmann), beginnt die Identifikation durch Abgrenzung. Da gibt es die Fromme (Natalia Grützmacher), den Zwanghaften (Robert Seipelt), die Gütige (Erin Kavanagh), den Einsamen (Noala de Aquino), die nette Nachbarin (Cecile Rouverot) und den netten Nachbarn (David Scherzer), dessen kleinbürgerliche Fassade nicht über die Abgründe hinwegtäuschen kann, die dahinter lauern. Er begehrt, vergewaltigt und zerstört die Figur der Träumerin (Cristin Braband) – die Reise des Narrenschiffs beginnt.

In 16 Bildern erzählen die Szenen auf der einen Seite von Glaube, Liebe und Hoffnung, auf der anderen vom Mensch, der dem Menschen ein Wolf ist. „Die Ängste der Menschen sind eigentlich immer die gleichen“, schreibt Dramaturg Peter Larsen im Programmheft, und genau diese Komponente setzt die Choreographie von Sven Grützmacher in getanzte Wirklichkeit um. In einer ganz selbstverständlich-sinnvollen Leichtigkeit findet Grützmacher choreographische Bilder für diese universellen Themen, die aus sich heraus funktionieren – wo sich die Inszenierung auf diesen eigenen Ausdruck verlässt, hat sie ihre stärksten Momente.

Foto: Marco Piecuch/Theater TrierDass das Stück im Verlauf leider viel von dieser Leichtigkeit verliert, liegt vor allem an der nicht nachvollziehbaren musikalischen Begleitung, die sich als klangliches Potpourri weitgehend ohne erkennbares Leitmotiv präsentiert: Philipp Glass folgt auf Monteverdi, The Tiger Lillies auf Franz Schubert. Die Brüche in dieser Dauerbeschallung erweitern den Blick nicht, sie versperren ihn durch die Beliebigkeit ihrer Abfolge. Besonders ärgerlich ist das an jenen Stellen, in denen die Musik als bloße Dopplung des Bühnengeschehens zum Einsatz kommt: Das tänzerische Thema der vom eigenen Erfolg Berauschten (Denis Burda, Juliane Hlawati) ist dadurch entwertet, dass es simultan paraphrasiert wird vom Text des Rammstein-Songs „Mehr“.

Noch platter geschieht dies in der Szene zu sexueller Promiskuität (Reveriano Camil, Susanne Wessel): Dass von der Bühnendecke überdimensionierte Kondome hängen (die mit den extra Noppen), reicht nicht, die Szene muss auch noch mit „Me so horny“ beschallt werden. Von der inszenatorischen Raffinesse des Anfangs ist an diesen Stellen nicht mehr viel zu spüren, hier kämpft das „Narrenschiff“ mit Redundanz und spürbaren Längen. Das ist besonders schade, da es solcher Illustrationen gar nicht bedurft hätte: Die Tänzer sind zu jedem Zeitpunkt ausdrucksstark genug, die Bühne auch ohne die Kuvertüre aus Klang- und Textverschnitten mit ihrer Präsenz zu füllen – mit den zahlreichen Dopplungen von Visuellem und Akustischem tut man ihrer Performance allerdings keinen Gefallen.

Schwierigkeiten ergeben sich außerdem aus der Fülle und der Größe der eingearbeiteten Themen. Die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft, faschistoide Tendenzen von Religionen, die Machtfrage in menschlichen Beziehungen – das alles sind gewichtige Fragen, die sich auch mit Gewinn aus der Vorlage ableiten lassen, doch sie alle in 80 Minuten verhandeln zu wollen, ist mindestens ehrgeizig. Das Gehetzte, Aneinanderreihende der Szenenfolge tritt immer dann besonders deutlich zu Tage, wo der Blick der Inszenierung sich allzu sehr auf eines dieser Themen verengt.

Doch davon abgesehen hat Sven Grützmacher das kleine Wunder vollbracht, die Implikationen des „Narrenschiff“-Stoffs schlüssig und stimmig für das Tanztheater der Gegenwart zu destillieren. Der seit über 500 Jahren andauernden Rezeptionsgeschichte hat er damit ein sehenswerte Etappe hinzugefügt. Das Trierer Publikum, das an diesem Abend auch einige jugendliche Köpfe mehr als gewöhnlich zu verzeichnen hatte, belohnte die Inszenierung mit langem, herzlichen Applaus im fast ausverkauften Saal.

Die nächsten Vorstellungen: 11. November, 19:30 Uhr; 16. November, 20 Uhr; 23. November, 20 Uhr; 1. Dezember, 19:30 Uhr; 7. Dezember, 20 Uhr; 18. Dezember, 20 Uhr; 27. Januar, 19:30 Uhr; 2. Februar, 19:30 Uhr.

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