From Trier to Highgate

Der Backes Herrmann und ich zäumen das Pferd von hinten auf und beschäftigen uns zunächst nicht mit dem Leben von Marx, sondern mit seinem Tod beziehungsweise mit dem „Danach“. Das war seine Idee. Ich hätte mich im Leben nicht freiwillig auf diese Wallfahrt gemacht (so nennt der Herrmann unsere Reise). Et Hildegard meinte, als sie von unserem Plan hörte: „Komm, verzähl nix, ihr fahrt doch net wegen dem Kommunischde dort hin!“ Aber da hat sie nur teilweise Recht. Natürlich hab ich uns sicherheitshalber einen Kneipenführer für die Zielgegend eingesteckt, das geb ich zu. Warum nicht das Wallfahren mit dem Angenehmen verbinden. Aber unser wichtigstes, unser eigentliches Ziel ist: Das Grab von Karl Marx.

TRIER/LONDON. Wir am Karfreitag also ab nach London. Ich erinnere mich noch, wie erstaunt ich war, als ich zum ersten Mal nach London kam (das ist, zugegeben, nun fast dreißig Jahre her). Da kam mir London überraschend bunt vor. Als Kind kannte ich London ja nur aus den Edgar-Wallace-Filmen. Also stellte ich mir London schwarz-weiß vor oder höchstens dunkelgrau mit hellgrauen Nebelschwaden, aus denen jeden Moment wahnsinnige Serienmörder hervortreten können.

Auch diesmal ist London wieder laut und bunt und voller Touristen. Wir sind keine Touristen, wir sind Pilger, und wir stolpern von Victoria Station erst mal Richtung Trafalgar Square, weil man da immer hinstolpert, wenn man nach London kommt. Der Platz ist proppenvoll mit Touris, denn unter der Admiral-Nelson-Gedächtnissäule wird gerade das Leiden Christi aufgeführt. Drei Männer hängen am Kreuz und sprechen in Headsetmikrofone. Gerade fragt ein Kreuznachbar, einer der beiden Räuber, den Jesus, warum der denn nicht sich selbst und ihnen gleich mit helfen könne? Außerdem sind auch Maria und Maria Magdalena dabei und beklagen die allgemeine Ausweglosigkeit der Situation. Mich stört, dass die Szene praktisch direkt unterm Hintern von Admiral Nelson stattfindet, denn der (der Nelson, nicht der Hintern) blickt ja in Richtung Themse und weg vom Square. Okay, die Bühne ist nicht direkt unterm Hintern, sondern man muss den Blick ein gutes Stück die Säule hinaufgleiten lassen. Trotzdem hoffe ich, dass sich der Regisseur nichts dabei gedacht hat. Außerdem verwirrt mich, dass man hinter den drei Kreuzen den zweiten Stock der roten Doppeldeckerbusse vorbeigleiten sieht.

Der Herrmann besinnt sich des eigentlichen Zwecks unserer Wallfahrt und fragt eine geduldig dreinblickende Polizistin: „Wo liegt denn hier der Marx begraben?“ (auf Englisch natürlich)

Die Polizistin deutet mit ungerührter Miene, als ob sie mindestens dreimal am Tag auf diese Frage antwortet, in Richtung U-Bahnstation Charing Cross, erklärt uns, dass wir einfach die Northern Line nehmen, in Archway aussteigen und uns dort weiter durchfragen sollen.

Die U-Bahn-Fahrt dauert ’ne Weile, und die nutzt der Backes Herrmann, um mir wieder eine seiner Marx-und-Maathes-Geschichten aufzunötigen:

Ort: wieder Trierer Gymnasium (heute FWG)

Zeit: 1834 oder 1835, kurz nach Schulschluss.

Marx schlendert allein abseits des Schulhofs herum und hält Ausschau nach dem Jungen, diesem Maathes, den er neulich in der großen Pause hinter einer Hecke beim Weintrinken erwischt hat. Marx ist noch ein gutes Stück von dem „Geheimplatz“ entfernt, da springt der Maathes bereits aus seinem Versteck hervor und ruft, freudig mit einer Steingutflasche (für Hochprozentiges) winkend: „Heij ass en jo widder, d’n Marxens Karl! Ei Kalle, dau gucks jao so grummelisch, äs ebbes passiert?“

„Na ja“, antwortet Marx mürrisch, „es ist nicht direkt was passiert, aber ich habe gerade erfahren, dass wir im Abi auch in Religion geprüft werden. Französisch, Mathe, Geschi, Physik – alles kein Problem, aber dass ich auch in Religion eine Prüfung bestehen muss… mit Reli stehe ich auf Kriegsfuß, hoffentlich geht das mal gut!“

„Ja, ja, de Religion, Kalle, de Religion is de Branntwein fir et Volk! Zum Wohl! – Mensch, Kalle, wat maachst dau dann schao widder? Schreibste schao widder alles uff, wat eich dir erzählen tu?“

„Ja, ich hab was ich brauche“, ruft der Marxens Karl und klappt mit einem zufriedenen Lächeln sein Notizbuch zu. „Wer weiß, Maathes, ob nicht so mancher Spruch, den du hier fallen lässt, leicht abgewandelt dereinst in gedruckter Form Einfluss auf das Weltgeschehen haben wird.“

„Soso, ‚dereinst‘! Na, vao mir aus. Schreib dau nur!“

Rund um Archway weiß keiner, den wir ansprechen, wo genau dieser Friedhof sein soll, also hängen wir uns an ein paar spanisch sprechende Touristen dran, die mit Stadtplänen und Reiseführern durch Highgate irren. An den Fersen dieser Pilger müssen wir richtig sein, da es in Highgate außer dem Friedhof nichts zu sehen gibt. Und wir sind richtig: Der Backes Herrmann lächelt selig, als wir am Friedhofseingang stehen – bis er kapiert, dass wir durch eine Ticket-Bude müssen, um reinzukommen, und dass es umgerechnet vier Euro fuffzich kostet, um dem Marx sein Grab zu gucken.

Herrmann fängt an rumzugrummeln – zum Glück auf Triererisch –, das Kapital habe den Kalle selbst im Tode fest im Griff, aber seine Stimmung hellt sich schlagartig auf, als er neben der Kasse eine ganz in Rot gehaltene Broschüre mit dem Titel „From Trier to Highgate“ entdeckt. Die Broschüre erläutert das Leben und Werk von unserem Marx dermaßen oberflächlich, dass sie nicht mal die zwei Pfund wert ist, die sie kosten soll. Der Herrmann erklärt dem Mann hinter der Kasse freudestrahlend, dass genau dies auch unser Weg sei: From Trier to Highgate – nur dass wir im Gegensatz zu Marx die Reise „and back“ geplant hätten.

Der Eintrittskartenmann schaut noch ungerührter drein, als vorhin die Polizistin, und man sieht ihm an, dass er denkt: Schon wieder so’n paar Verrückte aus Trier.

Ganz ehrlich: Der Friedhof ist die 4,50 Euro wert, denn hier liegen insgesamt 40 Berühmtheiten begraben. Der Friedhofsbelegungsplan, den man kostenlos dazu kriegt, versichert uns immerhin, dass Marx hier der „most visited resident“ sei.

Wir marschieren also schnurstracks zum „resident“, zum Anwohner (oder besser: Einlieger?) Nr. 23, und sind, nun ja, verblüfft. Nicht nur darüber, dass richtig viel los ist an Marxens Grab, wo etliche frische Blumen liegen, sondern auch darüber, wie unbescheiden das Grabmal zwischen all den deutlichen kleineren Gräbern hervorsticht. Überhaupt stimmen hier die Proportionen nicht: Der Kopf und die Schultern der Marxbüste sehen aus, als seien sie gewaltsam in den schweren Sockel hineingerammt worden und dabei etwas zu weit in den Stein geraten. Wenn man den Grabstein unten am Sockel anheben könnte, würden sicher die steinernen Füße der Marx-Statue rausschauen. Der gut vorbereitete Marx-Wallfahrer weiß: Diese Grabstein-Büste war ursprünglich noch größer, hat dann aber alle anderen Gräber dermaßen peinlich überragt, dass man den Marx oberhalb des Brustkorbs abschneiden musste und er deshalb so in den Grabstein reingewurstet aussieht (woher ich das weiß? Tja, hab ich in der Ausstellungsführung „Ikone Karl Marx“ im Simeonstift gelernt!)

Typen verschiedenster Nationen lassen sich vor dem Grab fotografieren. Wir auch, aber wir haben ein natürliches Recht dazu, wir sind schließlich Trierer, also quasi Nachbarn von Marx, und außerdem sind wir Pilger und keine Touristen. Übrigens lassen sich – zumindest während der Zeit, in der wir da sind – nur Männer vorm Marxgrab fotografieren, keine einzige Frau. Marxwallfahrten scheinen also eher so’n Männerding zu sein.

Mir fällt auf, dass die Büste vom Grabstein herab auf ein Meer von wunderbaren alten Steinkreuzen blickt. Na, ob sich der Kalle das mal so vorgestellt hätte?

Nachdem wir ’ne halbe Stunde beim Marxens Karl rumgehangen haben und Herrmanns sentimentale Stimmung sich wieder gelegt hat (beinah hätte er sich vor Rührung eine Träne aus dem Auge gewischt), beschließe ich, wenigstens noch ein oder zwei andere Berühmtheiten zu besuchen. Ich schleppe den Herrmann mit zum Grab von Douglas Adams, wo wir die Gruppe der spanischen Touristen wiedertreffen. Als Abiturient hab ich mit Begeisterung Adams’ „Per Anhalter durch die Galaxis gelesen“. Dennoch wundert mich die Inbrunst, mit der die jungen Spanier diesem Kult-Autor huldigen. Sie haben extra einen Kugelschreiber mitgebracht, den sie zu den dutzenden anderer Kugelschreiber in ein extra dafür vorgesehenes Behältnis vorm Grabstein stecken. Der Grabstein ist klein, schlicht, und verrät nur den Namen, zwei Jahreszahlen und den Beruf des Einliegers: Schriftsteller. Einer der Jungs zitiert offensichtlich aus Adams’ Werken (auf Spanisch) und eine sehr junge Spanierin küsst ihren Zeigefinger, berührt damit den Grabstein und wischt sich eine Träne aus dem Auge.

Der Backes Herrmann schluckt. So hat sich an Marxens Grab niemand gebärdet! „Nein!“, sage ich. „Herrmann, wir gehen nicht zurück, um dem Kalle seinen Grabstein zu küssen!“

Wir verirren uns noch eine Weile zwischen efeuüberwucherten und von Baumwurzeln gesprengten Grabplatten des weniger populären Friedhofsteils, dann beschließen wir, wieder runter zum „Londoner Hauptmarkt“, zum Trafalgar Square zu fahren, wo das Leiden Christi immer noch läuft – aber wir wissen ja, wie die Geschichte endet, also suchen wir uns ein ruhiges Plätzchen, wo wir uns eine Portion Fish and Chips gönnen (schließlich ist ja Karfreitag!)

Nachtrag: Wo wir gerade schon mal in England waren, sind wir auch gleich über Ostern dageblieben und sind passenderweise tüchtig in einer Kneipe namens „The Lamb“ versackt.

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