„Die Kinder verstanden ihren Vater nicht mehr“

Auryn2Jutta Perlach weiß, was sie „Auryn“ verdankt: Hier hat ihre Tochter gelernt, die Depression des Vaters nicht auf sich zu beziehen, obwohl sie zunächst nicht verstehen konnte, wieso der Papa, mit dem sie sonst stundenlang getobt hat, plötzlich abweisend und launisch war. Gabriele Apel hat den Verein 2001 gegründet, um Kinder zu stärken, deren Eltern monate- oder gar jahrelang unter einer psychischen Erkrankung leiden. Mit Reittherapie, gemeinsamem Basteln oder Gesprächsrunden versucht sie, die Kinder in ihrem Wesen zu stärken, ihnen Mut und Zuversicht zu vermitteln.

TRIER. Alle glücklichen Familien, schreibt der russische Schriftsteller Leo Tolstoi, glichen einander, jede unglückliche Familie hingegen sei auf ihre eigene Weise unglücklich. Jutta Perlach, die in Wahrheit anders heißt, sitzt in einem Café in der Innenstadt. Eine lebhafte Frau, die Augen strahlen, die Sätze sprudeln aus ihr heraus. Sie löffelt den Schaum ihrer Latte Macchiato, laktosefrei, und erzählt von ihrem Unglück.

Alles beginnt vor circa sechs Jahren. Sie, damals Anfang 40, ihr Mann, etwas jünger, haben drei Kinder; drei Mädchen, damals vier, sechs und acht Jahre alt. Ihr Mann verdient gut als Chef seiner eigenen Firma, unter ihm mehrere Angestellte. Sie selbst arbeitet drei Vormittage in der Woche, nachmittags kümmert sie sich um die Kinder und den Haushalt. Perlach erzählt, wie sie mit den Mädchen Fensterdekoration gebastelt hat und von Urlauben am Meer, „im Grunde waren wir glücklich.“ Doch dieses Glück wurde brüchig, als die Firma des Mannes finanziell ins Schlingern geriet. Plötzlich war er häufiger abgespannt, oft müde. Ihr Mann kam erst immer später von der Arbeit nach Hause, dann immer schlechter gelaunt – „es war nicht mehr der Papa, den die Kinder kannten.“

Er habe entweder gezürnt und getobt, oder er sei verschlossen gewesen und abweisend: „Die Kinder haben ihren Vater nicht mehr verstanden, sein Verhalten war überzogen, er hat gestraft, wo es nur zu rügen gab. Und trotzdem haben sie ihn geliebt.“ Die Gründe? Perlach zuckt die Schulter. „Wahllos“. Ein nerviges Lied im Guten-Morgen-Radio, und der Rest des Tages erhielt keine Chance mehr, gut zu werden. Eines der Mädchen hat gequengelt, er hat gebrüllt. Nicht die Ausnahme seines Verhaltens war nun das Problem, sondern die Regel, zu der es geworden war. Die Kinder wollten nicht mehr alleine sein mit ihrem Vater. Sie, die Mutter, wollte ihre Kinder nicht mit ihm alleine lassen. Und es sollte schlimmer werden, denn die Zahlen, die die Firma schrieb, näherten sich dem roten Bereich, dazu die Erwartungen im Privaten.

Der Druck, ein liebevoller – am besten: der liebevollste – Vater zu sein, der, der sich packende Gutenachtgeschichten ausdenkt und stundenlang auf dem Fußboden im Kinderzimmer kniet, um Puppen zu kämmen und umzuziehen, obwohl das Smartphone blinkt. Einer, der nie schreit und selten schimpft. Natürlich auch ein guter Ehemann, der zuhört und mitdenkt, einer, der morgens den Kindern Brote schmiert und nicht nur weiß, dass Hemden gebügelt werden müssen, sondern es auch tut.

Jede Möglichkeit, gut zu sein, birgt das Risiko, daran zu scheitern – für Männer wie für Frauen. Am Abend des Tages, an dem er die Angestellten entlassen hatte, weil seine Firma insolvent war, und er selbst halb-verzweifelt und dreiviertel-besoffen am Rande eines Trierer Hochhausdaches entlang torkelte, war die vermeintliche Erlösung von diesem Druck nur eine Fußbreite entfernt. Er habe nie beabsichtigt, zu springen, wird er später den Ärzten beteuern, er habe lediglich in Ruhe nachdenken wollen. Ein Bekannter hatte ihn gefunden und Hilfe alarmiert.

Im Krankenhaus war dann die Diagnose eindeutig: Depression, Burn-Out, die typischen Merkmale. Ein Jahr lang musste er mit kürzeren Unterbrechungen in der Klinik bleiben, mal in Trier, mal im Saarland. Immer alleine hingegen war Perlach mit den Kindern, manchmal hätten die Großeltern die Mädchen genommen, mal hätten Freunde aufgepasst. Doch schwierig war die Zeit nicht nur, weil der Vater fehlte, sondern auch dann, wenn sie ihn besuchen wollten. Wenn die Kinder voller Vorfreude auf der Rückbank des Autos saßen um dann auf einen Mann zu treffen, dessen Stimmung kippte, wenn der Tischtennisball nicht auf der Platte auftraf, sondern daneben. Wenn sie nach einer halben Stunden wieder in die Mäntel geschlüpft sind, weil der Papa ihr Geplauder erst desinteressiert verfolgte und dann mit launigen Halbsätzen quittierte. Dann, wenn die älteste Tochter, wieder auf der Rückbank, diesmal auf dem Heimweg, wissen wollte, was sie denn falsch gemacht habe, ob sie zu laut gewesen sei. Perlach konnte den Fragen nur mit Sprachlosigkeit entgegnen: „Ich selbst habe meinen Mann nicht wieder erkannt, was sollte ich ihr denn antworten?“

„Depression, speziell bei Männern, ist nach wie vor ein Tabu-Thema in unserer Gesellschaft, ein blinder Fleck, den viele nicht begreifen und deshalb ignorieren“. Gabriele Apel schlägt die Beine übereinander und schüttelt unverständig die braunen Locken. Sie sitzt in den Räumen von „Auryn“, an den Wänden hängen Bilder, der Boden ist mit Teppich ausgelegt, ihr gegenüber eine Sitzecke. Der Name „Auryn“ stammt aus Michael Endes „Die unendliche Geschichte“, es ist ein Amulett, das seinem Träger Kraft, Mut und Hoffnung schenken soll. Es sind eben diese Eigenschaften, die sie an die Kinder psychisch kranker Eltern weitergeben möchte. Kraft, Mut und Hoffnung, das hat auch Perlach sich für ihre älteste Tochter, nennen wir sie Pia, erhofft, als sie die damals Achtjährige in dem Verein anmeldete. Die jüngeren Kinder hätten die Krankheit des Vaters nicht mitbekommen.

Es gibt zwei Gruppen, eine für Kinder von circa sechs bis neun Jahren, eine für Kinder zwischen zehn und vierzehn Jahren, sowie einen unregelmäßigen Treff für junge Erwachsene. Derzeit besuchen etwa 20 Mädchen und Jungen „Auryn“. In einem Vorgespräch – meist sind die Eltern im Krankenhaus auf das Angebot von Apel und ihren Helfern aufmerksam geworden – wird die aktuelle Situation der Familie geklärt: Wer ist erkrankt und an was – man unterscheidet Depressionen, Schizophrenien, Traumata, es gibt Psychosen, Persönlichkeitsstörungen, Manien. Manche Menschen, sagt sie, erkrankten stressbedingt über einen kurzen Zeitraum, andere kämpften Monate oder Jahre etwa mit einer chronischen Depression. Entscheidend sei auch, ob der erkrankte Elternteil allein erziehend ist oder ein Partner das Familiengefüge stützt und ob Großeltern oder Freunde als doppelter Boden dienen.

Ziel ihrer Arbeit sei es, den Kindern die Krankheit des Elternteils so verständlich wie möglich zu machen, ihnen zu erklären, wieso andere Eltern auf dem Spielplatz toben, während sich der eigene Vater am helllichten Tag in die Bettdecke verpuppt oder es kein Mittagessen gibt, weil die Mutter es nicht geschafft hat, einzukaufen. Gerade im Alter von acht bis zehn Jahren, sagt die 58-Jährige, würden die Kinder viel auf sich beziehen. Diese Schuldgefühle wolle sie mindern, etwa mit Reittherapie auf einem Bauernhof im Umland, mit Fantasiereisen oder einem Gesprächskreis. Manchen Kindern würde es reichen, die zweieinhalb Stunden in Ruhe mit dem Puppenhaus spielen zu können, manche Kinder feierten im „Auryn“ zum ersten Mal ihren Geburtstag mit anderen Kindern, mit Kuchen und Geburtstagsständchen. In den Gruppenstunden, sagt Apel, könnten die Mädchen und Jungen Kind sein, sie hätten das Gefühl, nicht viel erklären zu müssen und trotzdem verstanden zu werden.

Apel blättert in einem Kinderbuch, eine Fuchsfamilie leidet darin unter der schlechten Laune des Vaters. Die Depression wird dargestellt als grüner Mantel, immer, wenn der Fuchs ihn trägt, ist er merklich anders. Hinter ihr an der Wand haben die Kinder „Seelenvögel“ gebastelt, die meisten sind mit bunten Farben ausgemalt und beklebt, ein Vogel hat schwarze Federn. Die Idee zu „Auryn“ kam Apel während ihres Studiums der Sozialen Arbeit, dort sei es viel um psychisch Kranke gegangen, selten hingegen um ihre Kinder. 2001 hat sie ihr Vorhaben zusammen mit einer Bekannten umgesetzt und den Verein gegründet, vier ehrenamtliche Mitarbeiter unterstützen sie, etwa während der wöchentlichen Telefonsprechstunde oder in der Vorbereitung der Gruppenstunden. Hauptberuflich arbeitet Apel im Schulsozialdienst, nebenbei mehrere Stunden pro Woche für „Auryn“. Der Verein finanziert sich überwiegend durch Geld- und Sachspenden. Wenn beispielsweise der Nahkauf Surges im Gartenfeld an diesem Samstag sein zehnjähriges Bestehen feiert, darf sich „Auryn“ über eine Spende von 2.000 Euro freuen.

Pia geht es mittlerweile besser. Vergangene Woche, sagt Perlach, habe sie ihr gesagt, dass sie „Auryn“ und die Gruppenstunden nicht mehr brauche, sie sei nun auch alleine „gut aufgestellt“. „Auryn“, sagt Perlach, habe ihre Tochter gestärkt, als sie selbst zu angeschlagen dazu war. Dort habe sie gelernt, dass sie nicht alleine ist mit ihren Sorgen und Nöten.

Nach den Klinikaufenthalten ihres Mannes hatte sich das Paar entschieden, ein Jahr lang getrennt zu wohnen, und es dann noch einmal gemeinsam versucht. Mittlerweile habe ihr Mann nicht nur den Beruf, sondern auch die Branche gewechselt und die Arbeitszeit reduziert. Sicher, seine Depression sei immer noch ein Thema, wie das berühmte Feuer, dessen Flamme zwar nicht mehr lodert aber immer noch schwelt. Wenn er nun merkt, dass ihn eine Situation zu überfordern droht, geht er joggen oder zu einem kurzen Spaziergang nach draußen, manchmal reicht es auch, sich ein paar Minuten ins Schlafzimmer zurück zu ziehen. „Im Großen und Ganzen geht es uns wieder gut“, sagt sie. Und das sei ein großes Glück.

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