The Opera ain’t over…

Zwischen Trier und Berlin liegen Welten, hin und wieder Galaxien, zumindest aber eine ganze Republik. In völlig unerwarteten Momenten rücken das Ende und das Zentrum des Landes ganz eng zusammen. So eine Situation gab es bei der 63. Berlinale vor wenigen Wochen. In der Sparte „Panorama“ wurde der luxemburgische Dokumentarfilm „Naked Opera“ gezeigt. Protagonist ist Marc Rollinger, der in Trier studierte, wo eine seiner Lieblingskirchen steht, die auch als Set diente. Der Film läuft derzeit in Luxemburg im Kino.

BERLIN/LUXEMBOURG/TRIER. Montagmittag in einem dunklen Kinosaal während eines nicht unbedeutenden Filmfestivals. Mensch nimmt Platz, Saal wird dunkel, Film fängt an. Erste Einstellung: ein Deckengemälde. In stiller Betrachtung. Dann eine menschliche Äußerung: „Dat lao kenn ich, dat is Pauliiiehn“. „Git et doch nit“, antwortet es aus den hinteren Rängen. Fazit: Es sind mindestens zwei erregte Trierer im Publikum, sehr viele Berliner, die nach Untertiteln zum Kinosaaldialog suchen, drei Österreicher, die gar nix verstehen, und internationales Publikum, welches das einfach crazy findet. Grund für den Einwurf der beiden auswärtigen Gäste ist die Darstellung von St. Paulin auf der Leinwand. Der Luxemburger Marc Rollinger, der Protagonist des Films, hat in Trier Kunstgeschichte studiert, und nach einem Studienausflug in die barocke Basilica minor wurde sie zu einer seiner Lieblingskirchen. In dem Dokumentarfilm „Naked Opera“, der kurz nach seiner Premiere mit dem erstmals verliehenen Heiner-Carow-Preis der DEFA-Stiftung ausgezeichnet wurde, stehen jedoch seine Beziehungen zu Menschen im Vordergrund.

Was ist wahr an der Liebe? Die man bezahlt? Don Giovanni hat sich diese Frage nie gestellt. Der Opernheld aus der Mozartwelt rannte durch das Leben und nahm sich all das, was er bekam. An Liebe. Echter. Falscher. Offenherziger. Vorgetäuschter. An Liebe aus Spiel. An Liebe aus Macht. An Liebe aus Einsamkeit, purer Einsamkeit. Don Giovanni führte Buch darüber, über seine vielen Liebschaften, auf dass sie nicht in Vergessenheit geraten. Das tut auch Marc Rollinger. Er fotografiert und archiviert seine Liebhaber, die er findet, die er bezahlt. Opernhelden haben es immer einfach, Rollinger ist in einer weniger komfortablen Situation. Die Liebe drängt sich ihm nicht auf, sie verfolgt ihn nicht, sie bleibt oft nur eine Aktennotiz. Abgeheftet. So zeigt es „Naked Opera“, eine Produktion der luxemburgischen „Amour Fou„.

Das Libretto: Marc Rollinger liebt Don Giovanni und jettet um die Welt, um die Städte zu besuchen, deren Opernhäuser das Mozart-Werk auf dem Programm haben. Es sind für ihn Fluchten aus seinem Leben in der luxemburgischen Vorstadt, dem Job und seiner unheilbaren Krankheit. Zu diesen Eskapaden lädt er sich Liebhaber ein, die nicht unbedingt sein Faible für das Singspiel teilen, wohl aber seine Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit erfüllen. Für einen kurzen Augenblick. Irgendwann glaubt er, sein Glück gefunden zu haben in einem Pornostar. Blond, groß, gutgebaut. Doch auch dies bleibt eine Liaison. Eine Notiz. Mit Belegen im Aktenordner. Als Diashow auf dem Computer. Das ist das, was bleibt. Von Don Giovanni – ob legendär oder besungen – ist es eine Oper. Von Marc Rollinger ist es ein Film. Intim. Ouvertüre. Offen. Arie. Ehrlich. Heldenbariton. Hart. Schräg. Sopran. Verlogen. Verletzend. Duett. Verliebt. Allegretto. Zart. Finale. Alles nur Theater, gesungenes Theater.

Den wahren Menschen zeigen

Was ist also wahr? An der Liebe? Im Theater? Der US-amerikanische Soziologe Erving Goffman machte daraus ein Konzept. Aus der darstellenden Kunst, nicht aus der Liebe. „Wir alle spielen nur Theater“, war seine Grundannahme. Auf der Vorderbühne geben wir den Menschen, den wir gerne sein wollen. Es ist die öffentliche Person, die wir darstellen, wann immer wir in sozialen Kontexten agieren. Auf der Hinterbühne bleibt die Persönlichkeit zurück, die der Mensch mit all seinen Erfahrungen, seinen Erfolgen und Niederlagen geworden ist. Dazwischen ein Vorhang, der die Hinterbühne vor allzu viel Aufdringlichkeit schützt. Marc Rollinger wollte in „Naked Opera“ stets und immer, in jedem Bild, in jeder Einstellung auf der Vorderbühne bleiben und sein eigenes Ich vor allzu großer Zudringlichkeit schützen. So hebt der Film an als Ouvertüre zu einer Persönlichkeit, die am Ende mehr preisgibt, als sie eigentlich will. Dies geschieht nicht in einer hämischen Art und Weise, indem sich der Film über den Protagonisten erhebt, ihn aber doch zur Schau stellt. Das ist das Metier.

Die Filmemacherin Angela Christlieb gelingt es, in wichtigen Momenten des Films den Schleier zwischen Vorder- und Hinterbühne zu heben, um den wahren Marc Rollinger zu zeigen. Abseits jeder Aufschneiderei, jedes prätentiösen Darstellens, jedes Scheins. Sie nutzt dazu Katalysatoren, die helfen, den Schleier zu heben. Ob das in einer Dokumentation erlaubt oder verboten ist, ist ein weites Thema, ein großes Feld. Cineastische Puristen werden sich gegen jedwede Regieanweisung in filmischen Dokumentationen wehren, dem Film alle Authentizität absprechen. Es ist ein schmaler Grat, den Christlieb geht. Die Erkenntnis, dass so mehr Hinterbühne ins Scheinwerferlicht kommt, mag diesen Schritt rechtfertigen und den Protagonisten vordergründig verletzen, weil dieser hintergründig nicht mehr die Deutungshoheit über sein eigenes Bildnis hat. Oder wie Rollinger es sarkastisch ausdrückt: „Wenn es der Wahrheitsfindung dient!“ Ob es dem Film an sich schadet, obliegt dem Betrachter. Das Berliner Publikum interpretierte Rollinger als das Klischee vom Luxemburger, das man in der deutschen Hauptstadt hegt und pflegt: Reich, in jeder Situation einen Crémant zur Hand, vielsprachig, – jetzt kommt’s – beziehungsunfähig und irgendwie „naja“.

„Das bin ich nicht!“

Doch dieses Bild wird brüchig, als der Hauptdarsteller nach einer Berlinale-Vorführung ruft: „Das bin nicht ich!“ Vielmehr: „Das will ich nicht sein.“ Er reklamiert, dass Szenen aus ihrem Kontext gerissen worden seien. Nicht jeder dieser Ausrisse ist gerechtfertigt, das bleibt als Kritikpunkt an dem Film zurück. Doch ist es auch selbstverständlich, dass eine Filmemacherin eine Auswahl treffen muss. Diese Auswahl ist immer subjektiv und mit jedem Filmschnitt, mit jeder Entscheidung für eine Einstellung entfernt sich der Film immer weiter weg von der Objektivität, die auch „Naked Opera“ für sich beansprucht. Es ist die Frage nach der Authentizität, der dieser Film zu viel Raum lässt. Und dann auch die Frage nach Reichtum. Während der Trierer weiter über die Bedeutung von Paulin in der modernen Filmwelt diskutiert, nutzt der Berliner seine Autorität als sozialethisches Gewissen, um die Frage zu stellen: Was machst du mit dem vielen Geld? Warum spendest du nicht? Einem Luxemburger stellt man diese Frage nicht, lernt der Berliner, und der Trierer fragt kleinlaut durch die Reihen, warum der Film denn nicht ganz in Trier gedreht worden sei? Trier sei doch viel schöner! Die Frage geht unter. Reichtum beschäftigt mehr.

Jeder Mensch versucht, etwas auf dieser Welt zu hinterlassen, weiterzuleben, sei es in seinen Kindern, wie mancher Berlinale-Beitrag zeigte, in seinen Werken, oder indem er einen Baum pflanzt. Marc Rollinger entschied sich, einen Film zu hinterlassen, weil er sein Leben für filmreif befindet. Nun muss er damit leben, dass die Zuschauer dieses Leben nun interpretieren. Das ist der Preis dafür. Der Film frisst seine Darsteller. Der Zuschauer entscheidet über Erfolg und Niederlage, Liebe oder Verrat. Er hat den letzten Ton im Singspiel, den Applaus. Oder – wie es über die Oper heißt: „The opera ain’t over, until the fat lady sings“ („Die Oper ist erst vorbei, wenn die dicke Frau gesungen hat“). So ist es auch in der „Naked Opera“, von der zumindest bleibt, das sie kurzweilig ist. Und die Zuschauer aus Trier? Sie stellten in der Ferne fest, dass Distanz nur ein schnödes Wort bleibt, wenn man Paulin auf der Filmleinwand sieht.

Martin Theobald

„Naked Opera“ läuft derzeit im luxemburgischen Ciné Utopia. Kinostart in Trier ist im Laufe des Jahres.

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