Starke Frauen

Seit 30. März bietet das Theater Trier zwei Meisterwerke des 20. Jahrhunderts an: „Die Kluge“ von Carl Orff und „L’heure espagnole (Die spanische Stunde)“ von Maurice Ravel. Die beiden Einakter sind pralles Musiktheater mit großem Unterhaltungswert, aber auch mit Anregungen zum Nachdenken. Obwohl Regisseur Sven Grützmacher im Interview (im Programmheft) keinen Zusammenhang der beiden Werke offenlegen will, gibt es eine inhaltliche Klammer: Starke und fantasiereiche Frauen wissen sich gegen gesellschaftliche Rahmenbedingungen durchzusetzen. Die „Kluge“ wehrt sich (zumal in der interessanten Neudeutung durch den Regisseur) gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die Spanierin Concepción gegen ihre sexuelle Verkümmerung. Es ergibt sich das klassische Diptychon aus ernstem Stück und heiterer Commedia dell’arte.

TRIER. Vorweg zur Musik: Obwohl beide Komponisten wahre Neuerer sind, braucht sich der Hörer nicht vor Atonalem oder sonst schwer Verdaulichem zu fürchten.

„Die Kluge (Die Geschichte von dem König und der klugen Frau)“ (Text und Musik von Carl Orff)

Das Werk hat das Märchen der Brüder Grimm „Die kluge Bauerntochter“ als Vorlage. Ein Bauer hat einen goldenen Mörser und bringt ihn in Erwartung einer Belohnung dem König. Die Warnungen seiner Tochter missachtet er. Der Stößel zum Mörser fehlt nämlich, und die kluge Tochter prophezeit, dass der König den Bauern verdächtigen wird, ihn unterschlagen zu haben. So geschieht es auch, und mit den Schreien des eingekerkerten Bauern „Oh, hätt‘ ich meiner Tochter nur geglaubt, nur geglaubt“ beginnt die Oper.

Der König wird neugierig und lässt die Tochter zu sich bringen. Sie muss drei Rätsel lösen; versagt sie, verlieren sie und ihr Vater ihr Leben. Sie besteht aber, und der König nimmt die „Kluge“ zur Frau. Als sie aber gegen die Ungerechtigkeit des Königs aufbegehrt und dem ungerecht Behandelten hilft, wird sie verbannt. Sie darf nur in einer Truhe mitnehmen, woran ihr Herz am meisten hängt. Sie gibt dem König einen Schlaftrunk und packt ihn in die Truhe.

Hier greift der Regisseur in die ursprüngliche Handlung ein und gibt der Klugen nur ein ziemlich kleines Kästchen. Der Zuschauer fragt sich, wie das funktionieren soll. Die Lösung sei hier nicht verraten, nur so viel: Die starke Frau zieht die Konsequenz aus Willkür und Überheblichkeit des Königs.

Orff ist uns heute vor allem durch seine landauf, landab aufgeführten „Carmina burana“ präsent (im Programmheft hat sich hier ein Fehler eingeschlichen). Seine Musik betont das Rhythmische stark und weist im Orchester den Bläsern und vor allem dem Schlagzeug eine dominierende Rolle zu. Man kann ihn als Erfinder der Minimal Music ansehen, wobei bei ihm im Unterschied zu späteren Vertretern die Wiederholungen der kleinteiligen Musikzellen vor allem rhythmische Varianten bringen. Das Musiktheater Orffs greift auf antike Tragödien wie auch auf bayerischen Barock samt Landleben und christlichen Mysterien zurück. In seinem „totalen Theater“ sollen Musik, Wort und Bewegung vereint werden.

„L’heure espagnole“ (Text von Franc-Nohain [Pseudonym], Musik von Maurice Ravel)

Der Uhrmacher Torquemada ist mehr seinen komplizierten Uhren als seiner feurigen Frau Concepción zugetan. Diese nutzt die eine Stunde pro Woche, in der ihr Mann außer Haus die Rathausuhren wartet, um ihre erotische Unterversorgung mit Hilfe des Schöngeists Gonzalvo zu bekämpfen. Leider kommt kurz vor dem Wartungstermin der Maultiertreiber Ramiro ins Geschäft. Für sein Anliegen soll er nun eine Stunde auf den Uhrmacher warten. Frau Concepción sieht ihr Stelldichein in Gefahr und bittet Ramiro – um ihn zu entfernen – schwere Standuhren in ihr Schlafzimmer hochzutragen. Der dienstfertige und schüchterne Ramiro erledigt das bereitwillig und rasch. Da kommt noch ein weiterer Verehrer von Frau Concepción, der beleibte Bankier Gomez. Damit die Verehrer einander nicht begegnen, werden sie von ihr in den Standuhren versteckt, und Ramiro muss die Uhren samt Inhalt hoch und wieder hinunter tragen.

Concepción ist vom Gesäusel ihres Schöngeists wenig begeistert, und Gomez ist so gar nicht ihr Typ. Da hat sie plötzlich die Erleuchtung , dass der kräftige Ramiro auch für anderes als Uhrenschleppen zu gebrauchen wäre, und verschwindet mit ihm in ihrem Schlafzimmer. Als ihr naiver Mann zurückkommt, erklären die Verehrer, sie wollten die Uhren kaufen und hätten sie deshalb auch von innen inspiziert. Ramiros Anwesenheit ist ohnehin unverdächtig, und so kann das Schluss-Quintett alle zu einer feurigen Habanera vereinigen.

Ravel arbeitete seine Werke mit größter Genauigkeit aus – vielleicht ein Erbe seines Vaters, eines Ingenieurs und Erfinders aus der französischsprachigen Schweiz. Ravel benutzte gerne traditionelle Strukturen, war aber zugleich in Harmonik und Rhythmus ein Neuerer. Seine flirrenden Klänge gelten als Meisterwerke des musikalischen Impressionismus. Die spanische Musik war für ihn von großer Bedeutung. Seine Eltern hatten sich in Spanien kennengelernt, seine Mutter war Baskin.

Das bekannteste und meistgespielte Werk Ravels ist der Boléro, angeregt und mit großem Erfolg uraufgeführt von einer Tänzerin. In Ravels eigener neckisch-untertreibender Sicht ist er aber nur eine „simple Orchestrationsübung“ und enthält überhaupt keine Musik. Orchestration war freilich eine seiner besonderen Stärken – siehe etwa seine geniale Fassung von Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“. Für seine „heure espagnole“ (uraufgeführt 1911) war die Zeit zumindest bei der Kritik noch nicht reif: Man sprach von „musikalischer Pornographie“.

Beide Werke hat – wie bereits erwähnt – Sven Grützmacher inszeniert. Seine Regie besticht vor allem durch die Personenführung. Da singt niemand von der Rampe aus, vielmehr bewegen sich alle Singschauspieler locker, natürlich und – wo es passt – auch mit tänzerisch-akrobatischem Elan. Das kommt auch beim Publikum sehr gut an. Besonders vertieft ist die Herausarbeitung der miesen Figur des Königs (Reuben Willcox): Eine abgehobene, selbstverliebte und brutale Persönlichkeit wird (unterstützt auch durch das Kostüm) als Prototyp tyrannischer Diktatoren vorgestellt. Folgerichig ist die für ihn von Grützmacher vorgesehene Entwicklung.

Wesentlich unterstützt wird die Regie durch die für Trier neue Bühnenbildnerin Hanna Zimmermann. Hut ab! Da wurde sparsam ausgestattet und damit viel Raum für die freie Bewegung der Akteure belassen. Dass das überzeugende künstlerische Konzept auch im ökonomischen Sinne sparsam sein dürfte, freut wohl den Intendanten und seinen Kassenwart. Für die „spanische Stunde“ geht Frau Zimmermann teilweise ins Surreale, wenn vom Bühnenhimmel herab Uhrenteile schweben, so Uhrenzeiger, die sich auch noch bewegen. Die Spielfläche ist bis auf eine Sitzgelegenheit für den Uhrmacher und die zwei benötigten Standuhren freigehalten. Der optische Gesamteindruck ist aber keineswegs dürftig; so sind die Standuhren so liebevoll gestaltet, dass man sie gerne für das eigene Heim erwerben würde.

Für die „Kluge“ baut Frau Zimmermann eine mehrstöckige Trutzburg, auf deren oberster Etage der vom Volk abgehobene Diktator residiert. Sängerfreundlich wird alles nach hinten abgeschlossen. Das nützt der Akustik, die ja immer ein Problem birgt, wenn aus der Tiefe des Raums und nicht an der Rampe gesungen wird. Mit den passenden, geschmackvollen Kostümen von Claudia Caséra zusammen ergibt sich besonders bei der „spanischen Stunde“ ein äußerst ansprechendes optisches Ganzes.

Musikalisch wird der Abend von GMD Victor Puhl geleitet. Das Orchester spielt erstklassig. Orff verlangt viele Bläser und ein umfangreiches und vielfältiges Schlagzeug. Für beide Werke müssen bezüglich des Textes leider Mängel der Aufführung konstatiert werden. Ravel wird in französischer Sprache mit guter Aussprache gesungen; lediglich der ansonsten vorzügliche Bariton Amadeu Tasca sollte noch an den Nasallauten arbeiten. Das Verständnis des Publikums soll durch deutsche Übertitel unterstützt werden. Diese erweisen sich aber als technischer Schwachpunkt: Von Anfang an sind sie wegen zu geringen farblichen Kontrasts der Texte gegenüber dem hellen Grund nur schwer zu lesen. Etwa ab Mitte des Stücks mit strahlend erhellter Bühne verschwinden sie faktisch. Abendspielleitung oder Inspizienz sollten sich das vom Zuschauerraum aus ansehen!

Für das Orffsche Gesamtkunstwerk ist die Textverständlichkeit essentiell, zumal der Gesang stellenweise ins Sprechen übergeht. Besonders schwierig ist das generell für Sopranstimmen. Evelyn Czesla als „Kluge“ intoniert zwar selbst die großen Sprünge ihrer Partie sauber, doch wäre im Zweifel dem Text gegenüber der Gesangslinie der Vorrang zu geben. Sprecherziehung der Sänger müsste vom Haus (Intendant!) auf die Agenda genommen werden. Dann würde auch in einem Werk, in dem geschätzte 5o Mal oder noch öfter „König“ im Text steht, dieser richtig am Wortende mit „ich“ und nicht mit „ig“ ausgesprochen – siehe etwa Siebs, Bühnensprache! Gegen diese Regel kann auch nicht eingewandt werden, sie sei nur für Norddeutschland oder Hannoveraner Hochdeutsch richtig, denn auch im Süden lehrt(e) das die Wiener Burgschauspielerin und anerkannte Spracherzieherin Vera Balser-Eberle ebenso.

In der „Klugen“ sind die sängerischen Leistungen vorzüglich bis gut. Besonderes Vergnügen bereitete das Trio der drei Strolche (Luis Lay, Amadeu Tasca und Pawel Czekala). Sie intonierten sauber und sangen bei gleichzeitigem köstlichem Gestikulieren fast völlig synchron. Die totale Perfektion war es aber nicht, das hätte noch mehr geprobt werden müssen. Orff hat ja überhaupt seine Tücken. (In Parenthese sei vermerkt, dass der in der Nachkriegszeit führende Operndirigent Herbert von Karajan mit der vertrackten Rhythmik Orffs nicht zurechtkam.).

Überzeugend besetzt waren auch Alexander Trauth als Bauer, Svetislav Stojanovic als betrogener Mann mit dem Esel, László Lukács als betrügender Mann mit dem Maulesel sowie Horst Lorig als Kerkermeister. Einzig Reuben Willcox als König war stimmlich etwas schwachbrüstig, und die tiefen Töne sind seine Sache ebenso wenig wie die extreme Höhe. Es mag aber sein, dass hinter dieser Besetzung oder Singweise die Idee steckt, den brutalen Tyrannen als Schwächling zu outen.

Wir sind in der glücklichen Lage, noch authentische Interpretationen mit Orff als Mitwirkendem zu besitzen, so die Einspielung aus 1956 unter dem kürzlich verstorbenen, präzise musizierenden Wolfgang Sawallisch – trotz der Manierismen von Elisabeth Schwarzkopf sehr empfehlenswert.

Die sängerischen und darstellerischen Leistungen in der „spanischen Stunde“ sind durchwegs vorzüglich. Die neu engagierte Kristina Stanek hat erotische Ausstrahlung, spielt locker dominierend und singt glasklar. Den Schöngeist Gonzalvo gibt Svetislav Stojanovic als lebende Persiflage eines „Kulturarbeiters“ darstellerisch hinreißend komisch und bewältigt selbst die schmachtenden Höhen gesanglich souverän. Den Uhrmacher singt Luis Lay stückentsprechend als ruhigen Langweiler sehr schön; die Verstellungskunst des sonst so quirligen Sängers überrascht.

Überhaupt macht es einen besonderen Reiz aus, dass einige Rollen quer zur Typerwartung des Publikums besetzt sind. Amadeu Tasca besticht durch seinen kräftigen, schön geführten Bariton; ironischerweise ist er vom Körperbau her gerade nicht der Muskelprotz, den man für den Schwerarbeiter Ramiro erwarten müsste. Bei Pawel Czekala als Bankier gefällt vor allem die bei Bässen mit (Stimm-)Volumen mitunter zu vermissende stimmliche Fokussierung und saubere Intonation.

Insgesamt ist der Operndoppelabend zu empfehlen. Weitere Aufführungen sind geplant für  den 5., 13., 18. und 27. April, 19. und 25. Mai sowie 9. Juni. Informationsreich wird an den meisten Abenden jeweils eine halbe Stunde vor Beginn im Foyer – leider allerdings vom Band – in das Werk eingeführt.
(Besuchte Aufführung: 2. April 2013)

Dieter Rückle

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