Triers einzigartige WG

Smile„Smile“, das ist Englisch und heißt „lächeln“. Obwohl es gleich ausgesprochen wird, hat das Wort in einem Haus in Heiligkreuz eine andere Bedeutung. Und eine andere Schreibweise hat es auch: „SMiLe“. Die Abkürzung steht hier für „Selbstständig miteinander leben“ und ist der Name einer Wohngemeinschaft, wie es sie in Trier kein zweites Mal gibt. In der WG leben seit mehr als zwei Jahren sechs geistig behinderte mit drei nichtbehinderten Menschen zusammen. Die einen werden betreut, haben einen Gesprächspartner am Tag und in der Nacht jemanden, der aufsteht, wenn sie unruhig schlafen. Die anderen betreuen, sind Freund und Helfer beim Anziehen, beim Kochen, beim Einkaufen. Sie kümmern sich – auch nachts. Und verdienen hierdurch die Miete für ihr WG-Zimmer.

HEILIGKREUZ. Christian? Lehnt sich entspannt zurück. Die letzte Runde „Tekken“ auf der Playstation hat er für sich entschieden. Immer noch zufrieden mit diesem Erfolg, teilt er ein Stück Schokoladenkuchen mit der Gabel, spießt eine Hälfte auf, kaut genüsslich. Sein Gegenüber hat er im Blick. Timon? Sinnt auf Revanche. Im „Tekken“ verliert er nicht. Normalerweise nicht. Seine Niederlage nennt er „Ausnahme“, Kuchen lehnt er ab. Stattdessen hält er seine Teetasse umfasst. Sein Gegenüber schaut er bewusst nicht an. Die beiden Männer sind Anfang 20, einer von ihnen ist geistig behindert. Sie haben gerade zu Abend gegessen, Wraps mit Schafskäse, dazu Feldsalat. Zum Nachtisch gab es Kuchen. Wie genau sie den Abend verbringen, wissen sie noch nicht. Was sie wissen ist, dass sie es zusammen tun werden.

„SMiLe“ steht in großen Buchstaben über der Eingangstür zum Haus in Heiligkreuz, in dessen Esszimmer die beiden sitzen – „Selbstständig miteinander leben“. Das Konzept: Sechs geistig behinderte Männer und Frauen im Alter von 25 bis 30 Jahren wohnen zusammen mit drei nichtbehinderten Menschen in einer Wohngemeinschaft. „Es geht darum, die geistig behinderten Bewohner in einem möglichst normalen Umfeld zu lassen, sie aber gleichzeitig individuell zu betreuen“, sagt Bruni Werner, die Teamleiterin des Hauses.

Dass dieses Projekt in Trier Gestalt angenommen hat, sei einem Elternpaar zu verdanken, dessen Sohn mit Down-Syndrom zur Welt gekommen ist, sagt Werner. Sie hätten sich überlegt, wie sie sich die Zukunft ihres Jungen vorstellen – nicht in einem Heim, sondern in einer Gemeinschaft mit nichtbehinderten Menschen. Zusammen mit anderen betroffenen Eltern hätten sie Pläne gewälzt und nach möglichen Häusern gesucht. Im Januar 2011 wurde schließlich begonnen, das Haus in der Rotbachstraße behindertengerecht herzurichten. So fährt etwa ein Aufzug in die oberen Stockwerke, die Duschen sind barrierefrei zugänglich. Finanziert wurden die Umbauten durch Spenden der Eltern und verschiedener Firmen, durch die Mitgliedsbeiträge aus dem „SMiLe“-Verein, durch die Aktion „Meine Hilfe zählt“ des Trierischen Volksfreunds; und auch die „Aktion Mensch“ des ZDF steuerte Gelder bei.

Die Idee zu diesem inklusiven Wohnen stammt ursprünglich aus Frankreich und folgt jener der Arche-Gemeinschaften, die ihre Wurzeln in der katholischen Soziallehre haben. Deshalb spielt der Glaube auch eine Rolle im Leben der neun „SMiLe“-Bewohner. Vor dem Abendessen wirft Stefan einen Gebetswürfel aus Holz über den Abendbrottisch, zwischen Teekannen und einer Blumenvase bleibt er schließlich liegen. Ein Mitbewohner liest das kurze Dankgebet Satz für Satz vor, alle am Tisch sprechen nach. Erst dann wünschen sich die jungen Erwachsenen „Guten Appetit“. Messerspitzen klirren auf Porzellan, der Tee wird herumgereicht, Simon erzählt, dass sein Zug ausgefallen sei und dass er immer Pech mit Zügen habe. Eine Bewohnerin muss das Essen gereicht werden. „Wir beten vor den Abendessen und vor gemeinsamen Essen am Wochenende, manchmal möchten die Bewohner den Gottesdienst besuchen“, berichtet Werner. Zu Weihnachten hätten sie einen Adventsweg im Esszimmer aufgebaut, jeden Montag durfte ein Bewohner eine Krippenfigur dazustellen. Sind die Bewohner nicht religiös oder andersgläubig, sei das aber auch kein Problem, betont die Teamleiterin. Sie müssten sich auf die Gebete am Abendbrottisch einlassen können, alles weitere sei absolut freiwillig.

In der Zwischenzeit hat Stefan eine Schlager-CD angemacht, eine Bewohnerin tanzt dazu. Bruni Werner erzählt, dass die junge Frau sich gerne zu Musik bewege, auf Fastnacht freue sie sich schon, auf den Umzug, die Bonbons, die von den Wagen geworfen werden, auf die kostümierten Jecken. Die Bewohnerin selbst kann sich kaum verständigen, Werner und die anderen achten auf ihre Gesten. Wenn sie aufgeregt sei oder sich freue, erklärt Anne, eine der nichtbehinderten Bewohner, wippe sie mit dem Oberkörper vor und zurück. Und ein Strahlen, sagt Anna, verstehe man auch ohne Worte. Christian ist derweil in ein Gespräch mit seiner Freundin vertieft, er zeigt ihr auf seiner Spielkonsole, wie viele Schritte er an diesem Tag gelaufen ist. Etwas mehr als 8000 waren es, die Zahl blinkt schwarz auf dem Display, daneben ein kleiner Fuß.

Er beugt sich lang über die Lehne des Holzstuhls zurück, gähnt. Sonst gehe er mehr, sagt er, aber an diesem Tag habe er keine Lust, zu laufen. „Im Fitnessstudio war es anstrengend“, erzählt er, noch von den Übungen der vergangenen Woche spüre er den Muskelkater. Was er trainiert hat? Er stemmt die Arme in die Luft: „Hanteln“. Dann zeigt er auf den rechten Oberarm, er spannt den Bizeps an, leicht zeichnet sich der Muskel unter dem T-Shirt ab. „Wird noch mehr“, sagt er und lässt die Arme sinken. Außerdem habe er den ganzen Tag Schrauben sortieren müssen, was ebenfalls mühselig gewesen sei. Wie auch die anderen Bewohner arbeitet er tagsüber in einer Behindertenwerkstatt. Morgens werden zwei von ihnen von einem Bus abgeholt, nach Feierabend wieder zurückgebracht. Vier Bewohner nutzen selbstständig den Stadtbus. Bis zum Schlafengehen und an den Wochenenden sowie morgens kümmern sich die drei nichtbehinderten Mitbewohner, die von hauptamtlichen Assistenten und einem FSJler unterstützt werden, im Schichtdienst um sie.

Simon studiert eigentlich Jura, drittes Semester, sein Abitur hat er in Aachen gemacht. Der 20-Jährige lehnt am Kühlschrank in der gemeinsamen Küche im Erdgeschoss und schaut Elena dabei zu, wie sie mit einer Handpuppe spielt. Klar, sagt er, manchmal sei es anstrengend, nach mehreren Seminaren nach Hause zu kommen und von sechs Leuten gleichzeitig bestürmt zu werden. Manchmal brauche er erst einige Minuten in seinem Zimmer. Dennoch würde er „seine“ WG nicht eintauschen wollen. „Ich habe mein Freiwilliges Soziales Jahr in einem ähnlichen Wohnheim in Aachen gemacht. Diese Tätigkeit wollte ich auf jeden Fall beibehalten“, sagt er. Seit Beginn seines Studiums vor mehr als einem Jahr arbeitet Simon nun gemeinsam mit den anderen beiden nichtbehinderten Mitbewohnern im „SMiLe“.

Je nach Grad der Selbstständigkeit hilft er den Bewohnern beim Zimmerputz, beim Anziehen, beim Waschen. Die jungen Erwachsenen gehen mit ihnen schwimmen, einkaufen oder zur Ergotherapie. An diesem Tag mussten 100 Pfarrbriefe verteilt werden, einer der Bewohner benötigte eine Waschlotion aus der Apotheke, es musste gemeinsam gekocht werden, einige der jungen Männer feuern an den Wochenenden die Basketballer der TBB an. Ansonsten gibt es immer einen Nachtdienst, der über ein Babyphone hört, wenn einer der Bewohner Hilfe benötigen sollte. Insgesamt mindestens zwölf Stunden pro Woche arbeitet Simon für sein Zimmer, Miete zahlt er nicht. „Manchmal bekommen wir Anfragen von Leuten, die nur hier wohnen wollen, sich aber nicht um die Bewohner kümmern möchten“, sagt Werner. Das funktioniere nicht. Die behinderten Bewohner finanzierten ihre Miete mit ihrem Pflegegeld oder erhielten finanzielle Unterstützung von den Eltern.

Mittlerweile sind die Essensteller abgeräumt, jeder hat sein Besteck in den Geschirrspüler sortiert. Es ist Abend, draußen peitscht der Wind den Regen gegen die Fenster. Christian streckt sich wieder, gähnt. Er überlegt, wie er den Abend verbringen soll. Vielleicht schaut er Fernsehen mit den anderen im Gemeinschaftsraum im ersten Stock. Vielleicht spielen sie aber auch etwas. Er schaut zu Timon. Der hat Glück an diesem Abend. Auf eine weitere Runde „Tekken“ hat er keine Lust. Zum Gewinnen ist er nicht mehr konzentriert genug.

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