Nicht vom Wege abgekommen

Am vergangenen Samstag hatte am Trierer Theater Verdis „La Traviata“ Premiere, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr in Trier gespielt wurde. Das Werk gehört zur Trias der erfolgreichsten Opern seiner mittleren Schaffensperiode. Es nimmt eine Sonderstellung in Verdis Schaffen ein: Als einziges Werk behandelt sie ein zeitgenössisches Sujet; hieran ändert auch nichts, dass auf Wunsch des Uraufführungstheaters die Handlung in die Zeit um 1700 verlegt wurde. In Wahrheit spielt sie (wie die Vorlage Alexandre Dumas´ des Jüngeren) in der Mitte des 19. Jahrhunderts, einer Zeit, die in vielfacher Hinsicht der heutigen Jagd nach Geld und nach oberflächlichen konformistischen Vergnügungen der wirtschaftlich Erfolgreichen entspricht. Das ist der Ausgangspunkt einer naheliegenden Aktualisierung.

TRIER. Das Vorbild für Dumas´ „Dame aux camélias“ war die Pariser Edelkurtisane Marie Duplessis, die aus ärmlichen Verhältnissen zum Idol der Schicki-Micki-Gesellschaft aufstieg. Mit ihr war Dumas liiert, unter anderen wohl auch Franz Liszt. Sie starb mit 23 Jahren an Tuberkulose. Bei Verdis Librettisten Francesco Maria Piave wird aus ihr die Titelheldin Violetta, die „Abgeirrte“, die „vom Wege Abgekommene“ („Traviata“).

Die Inszenierung durch Birgit Scherzer, von der in Trier schon mehrere Arbeiten gezeigt wurden , ist eine erfreuliche Ausnahme in der heutigen Regiewüste: einerseits nicht altbacken, andererseits aber in Übereinstimmung mit der Aussage des Werks – und diese nicht verfälschend – aktualisiert. Die Geld jagende Gesellschaft will immer tollere „Events“ genießen. Wer dazugehören will, verhält sich – trotz des Strebens aufzufallen – doch konformistisch; in Regie und Kostümen kommt das sehr gut heraus.

Als bewunderter „exotischer Vogel“ dient – wie heute etwa Stars aus dem Showgeschäft – Violetta, von der alles interessiert. Diese hat bisher mit ihrer Rolle als gefeierter Mittelpunkt rauschender Feste eigene Bedürfnisse nach persönlicher Nähe ebenso verdrängt wie ihre Ängste wegen ihrer öffentlich noch nicht bekannten schweren Krankheit, bis Alfredo in ihr Leben tritt. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen, will aber auch zunächst ihr turbulentes luxuriöses Leben nicht aufgeben. (In der großen Arie des ersten Akts drückt sie hintereinander beides aus; das Ende des ersten Arienteils verführt immer wieder einen Teil des Publikums zu verfrühtem Applaus.)

Im zweiten Akt lebt sie mit Alfredo zurückgezogen auf dem Land, bis Alfredos Vater, Giorgio Germont, sie aufsucht und dazu überredet, die Gefährdung der gut-bürgerlichen Heiratsaussichten von Alfredos Schwester zu beseitigen, indem sie sich von Alfredo trennt. Sie täuscht diesem vor, ihn nicht mehr zu lieben, und fährt nach Paris zu einem rauschenden Fest, wo sie vom nachgereisten Alfredo öffentlich gedemütigt wird. Im dritten Akt erlebt die nun schon schwer kranke und einsame Violetta nach Fieberträumen noch die Rückkunft des nun wissenden Alfredos, bevor sie nach letztem Aufbäumen stirbt.

An der Regie besticht neben der Gesamtkonzeption die durchdachte Personenführung. Besonders gelungen ist der große Dialog Violetta/Giorgio Germont im zweiten Akt: Germont kommt als Geschäftsmann, der wenig Zeit investieren und die unangenehme Sache schnell hinter sich bringen will. Nach polterndem Auftritt wird er dann äußerlich milder. Nachdem sich Violetta zum Verzicht durchgerungen hat, möchte sie von Germont wie eine Tochter aufgefangen werden. Dieser aber hält sie trotz ihrer Umarmung auf Distanz. Seine spätere Arie „Da provenza…“ ist laut Verdi dessen bestes Cantabile für Bariton, wird aber oft als bloßes Virtuosenstück abgetan; hier passt es aber genau zur entwickelten Figur. Besonderen Genuss bereitet der toll choreographierte Chor der spanischen Stierfechter. Passende Hinzufügungen der Regie sind im zweiten Akt ein hagerer Mann mit Tiermaske (wohl bevorstehende Zeiten des Hungers symbolisierend) und im dritten Akt eine immer wieder vorbeigehende (Frauen?)-Figur (wohl die Tödin als Vorbote des nahenden Endes). Lichteffekte werden sparsam und nur zu besonderen Höhepunkten eingesetzt.

Einige Einwendungen seien aber doch vorgebracht:

– An einer Wand etwas aufzuschreiben folgt einer derzeitigen Regie-Mode. Was bringt es?
– Der schon schwer kranken Violetta wird im dritten Akt das Bett verweigert; wenn sie sich später laut Text erheben will, muss sie hier zu Boden sinken.
– Bei einer Vergnügungsveranstaltung entledigt sich ein Großteil des Chors der Schuhe; dann passiert aber nicht viel, eine zu erwartende Orgie findet nicht statt.

Das Bühnenbild (Gerd Hoffmann/Arlette Schwanenberg) abstrahiert von vielen Details und gibt damit vorteilhafterweise Raum für die handelnden Personen; allerdings fehlt das Bett Violettas doch (siehe oben). Die Kostüme (Gera Graf) verdeutlichen bei den feierwütigen Massen das Bedürfnis individuell hervorzustechen und zugleich – durch die einheitliche Farbe – der schichtspezifischen Konvention zu folgen. In den Fundus der zu entsorgenden Neuigkeiten würde aber das zudem sängerunfreundliche Plastikkostüm der Violetta im ersten Akt gehören.

Das sängerische Niveau der Aufführung ist insgesamt sehr hoch, wobei alle Rollen mit derzeitigen oder früheren Ensemblemitgliedern besetzt werden konnten. Herausragend ist die Violetta von Adréana Kraschewski, die sich mit dieser Leistung auch für führende Häuser qualifiziert. Die Violetta ist wohl gesangstechnisch die schwierigste Sopranpartie Verdis überhaupt. Man braucht einerseits einen lyrisch-dramatischen Sopran mit genügend Volumen in allen Lagen, andererseits Koloraturfestigkeit bis in extreme Höhen (bis zum dreigestrichenen des, wegen eines üblichen Einlagetons sogar bis zu einem brillanten es). Selbst berühmten „Sängerlegenden“ (etwa Renata Tebaldi oder Hilde Güden) ist diese Kombination nur mit Mühe gelungen. Frau Kraschewski verfügt über genügend Material und über beste Technik (etwa tragende Piani in hoher wie tiefer Lage, messa-di-voce-Kultur, saubere Koloraturen und Höhensicherheit). Ihr differenzierter Gesang ist mit hoher darstellerischer Präsenz verbunden.

Ein sehr erfreulicher Neuzugang (ab 2012/13) ist der brasilianische Bariton Amadeu Tasca als Vater Germont. Seine virile Stimme führt er mit schönem dunklem Timbre bis in die beachtlichen Höhen der Partie. Auch er besitzt vorzügliche Technik mit Differenzierungsvermögen.

Svetislav Stojanovic singt den Alfredo mit kräftigem Tenor, den er allerdings in der Höhe recht ungezügelt einsetzt. Dramatisch ist er überzeugend, aber besonders bei den Duetten mit Violetta wäre manches Piano angebracht. (Eine Anregung an die Theaterleitung: Bei Alternativbesetzungen (wie hier beim Alfredo) sollte die tatsächlich Abendbesetzung – etwa mit Hilfe eines Beiblatts – in die verkauften Programme!)

Auch die kleineren Rollen sind adäquat besetzt, teilweise auch sehr gut. Besonders beeindruckt der Gaston von Luis Lay: Zum ordentlichen Gesang seiner eher kleinen Tenorstimme kommt eine erstklassige tänzerische Leistung als Anführer der spanischen Stierfechter. Der von Angela Händel gut einstudierte Chor hat auch darstellerisch einiges zu leisten

Der musikalische Leiter GMD Victor Puhl führt sicher und mit Verve durch die Aufführung. Allerdings lässt die – bei Verdi zugegeben schwierige – Abstimmung mit den Solosängern Wünsche offen: Nach (durchaus gebotenen) Ritardandi muss der Dirigent mitatmend den Sängern etwas Zeit zur Vorbereitung der neuen Phrase geben und sollte nicht allzu plötzlich das wieder aufzunehmende Normaltempo fordern.

Das Orchester musiziert sehr ambitioniert und qualitätsvoll. Spürbar werden aber die Sparzwänge: Verdi fordert in Aktvorspielen vierfach geteilte Violinen. Die zahlenmäßig unterbesetzten Pulte schlagen sich wacker. Der Klang der hohen Streicher ist aber natürlich dünn; als Notlösung könnte der Dirigent die tiefen Stimmen kompensatorisch mehr zurücknehmen.

Insgesamt ist dem Haus eine hochrangige Aufführung gelungen. Die weiteren Aufführungen (zunächst 21. und 26. Oktober, dann voraussichtlich bis 20. Januar) können auch einem Publikum außerhalb der Region empfohlen werden.

Dieter Rückle

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