Krisen ohne Ende

Illustration: Teresa Habild„Ukraine-Krise“ titelt die FAZ, derweil ZEIT Online mit der „Irak-Krise“ aufmacht und auf sueddeutsche.de über die jüngste „Politische Krise in Frankreich“ berichtet wird. Der Sommer ist vorbei, das „Sommerloch“, das Journalisten mit unschöner Regelmäßigkeit zu medialen Verzweiflungstaten trieb, ausgefallen. Wäre da nicht die groteske Headline auf der Webseite des Sterns: „Ernteausfall bei Haselnüssen: Droht bald die Nutella-Krise?“

TRIER. Wenn es noch eines Belegs bedurfte, so ist er rasch gegoogelt – die Bedeutung des Begriffs „Krise“ ist so unscharf wie seine Verwendung beliebig. Die nächste große oder auch kleinere Krise lässt erst gar nicht auf sich warten, sie ist schon längst da. Krisen lauern allerorten, und während für die einen selbst ein Krieg wie jener in der Ostukraine noch unter dem eher verharmlosenden Terminus „Krise“ firmiert, bekommen Hamburger Journalisten schon ob eines möglicherweise drohenden Lieferengpasses von haselnusshaltigem Brotaufstrich die Krise.

Spricht man dieser Tage mit Martin Endreß und Nicole Zillien, kommt die Rede ebenfalls schnell auf „Krisen“. Das ist nicht weiter verwunderlich, bereiten die Beiden doch federführend den 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie vor. Der ist dem eigentlich zeitlosen und nur scheinbar aktuellen Thema „Routinen der Krise – Krise der Routinen“ gewidmet. Die Soziologie gilt historisch auch als Krisenwissenschaft, setzte sie sich doch von Beginn an mit der Krise moderner Gesellschaften auseinander. Krisen bergen auch die Chance, notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen den Boden zu bereiten und Verbesserungen den Weg zu ebnen. Endreß spricht von einer „Richtungsdynamik auf etwas Positives“. Doch der Trierer Professor weiß auch: Wird der Begriff „Krise“ gedankenlos und beliebig verwandt, droht dessen Impulsfunktion zu verpuffen. Bei vielen Menschen könnte eine gewisse Abstumpfung eintreten. Denn ist immerzu von „Krise“ die Rede, ist es bis zum Gerede nicht weit.

„Die Soziologie kann es sich nicht leisten, mit einem derart ungenauen Begriff umzugehen“, zeigt Endreß das Dilemma auf. Er wie auch Nicole Zillien und das lokale Team, das vom 6. bis 10. Oktober den wohl größten Wissenschaftskongress organisiert, der jemals in Trier ausgerichtet wurde, wollen Anstöße dazu geben, über das „soziologische Potenzial zur Krisenanalyse“ ebenso zu reflektieren wie über die „wissenschaftliche Verantwortung in Krisenzeiten“. Und weil es nicht die Soziologie gibt, sondern mehrere Dutzend Sektionen von der Arbeits- und Industrie- über die Medien- bis zur Wissenssoziologie, nähern sich gleich etliche Hundert Referenten in rund 700 unterschiedlichen Vorträgen dem Phänomen. Angesagt haben sich auch wissenschaftliche Koryphäen aus Harvard, Stanford und Philadelphia; reich vertreten ist auch das diesjährige Gastland Polen.

Dabei richtet sich der Kongress keineswegs nur an Fachpublikum, wie die Organisatoren betonen. Mögen nicht wenige der Veranstaltungstitel den interessierten Laien an seine Verständnisgrenzen bringen, so finden sich doch auch zahlreiche Angebote, die sich auch für Nicht-Soziologen lohnen. Und natürlich sollen die erwarteten rund 2000 Teilnehmer des Soziologenkongresses auch etwas von der Stadt mitbekommen: Ein „KrisenFest“ in der Tufa steht ebenso auf dem Programm wie ein „chorischer Parforceritt“ im Brunnenhof (siehe rechte Spalte). Zudem werden rund 100 Zeichnungen in der Ausstellung „Grüß Gott! Da bin ich wieder! Karl Marx in der Karikatur“ gezeigt. Für den bedeutendsten Sohn der Stadt waren Krisen ein notwendiger Bestandteil der kapitalistischen Ökonomie. Marx verwendete den Begriff nicht reflexhaft, sondern reflektiert. Geht es nach den Organisatoren des Kongresses, nehmen sich die Soziologen zumindest in dieser Hinsicht ein Beispiel an dem großen Gesellschaftstheoretiker.

Das komplette Programm finden Sie hier.

Marcus Stölb

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