Hauptorgan des Klassismus

Heute vor 60 Jahren erschien die erste Ausgabe der BILD. Wir alle sollen diesen Geburtstag mitfeiern, denn der Springer-Verlag belieferte gestern jeden Haushalt mit einer Jubiläumsausgabe – zahlreichen Protesten zum Trotz. Das Blatt polarisiert wie eh und je, noch immer kann es Karrieren befördern und zerstören, zerrt aber oft auch Vertreter von Randgruppen an die Öffentlichkeit. Neben Migranten sind Erwerbslose dabei häufig die Leidtragenden. In ihrem soeben erschienenen Buch „Faul, frech, dreist“ nehmen die Trierer Soziologen Christian Baron und Britta Steinwachs die Kampagne gegen den von BILD als „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ über den Boulevard gezogenen Arno Dübel unter die Lupe. In einem Gastbeitrag für 16vor berichten sie von den Ergebnissen ihrer Untersuchung.

TRIER. Viele halten BILD für ein zwar anstößiges, aber letztlich doch ungefährliches Revolverblatt. Mit vermeintlich unpolitischen Botschaften, so die landläufige Meinung, kloppt die Gazette den ersten Artikel des Grundgesetzes vorrangig mit intimem Schmutz aus der Sexklatschkloake um der schnöden Auflage willen effektvoll in die Tonne. Unbeachtet bleibt dabei, dass BILD auch mit einer politischen Agenda agiert und es vom Papst über Sarrazin bis hin zu Merkel zahllosen politischen Würdenträgern ermöglicht, „an der ungeheuren Macht zu schmarotzen, die BILD im geistigen Lumpenproletariat mit Reportagen aus den Unterhosen prominenter Zeitgenossen erwirtschaftet hat“ (Gerhard Henschel).

Ein ideales Beispiel sind die immer wiederkehrenden Sozialstaatsdebatten. Nachdem das Bundesverfassungsgericht etwa im Jahr 2010 die Regelsätze des Arbeitslosengeldes II für verfassungswidrig erklärte, wütete der damalige FDP-Chef Guido Westerwelle sogleich via Springer-Blatt Die Welt: „Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein“.

Arno Dübel als typischer Hartz-IV-Empfänger

In der Folge orchestrierte BILD nahezu täglich diese sich fortsetzenden Pöbeleien aus dem Lager der Bundesregierung gegen Hartz-IV-Empfänger. Manifestiert hatte sich dieses Klischee an einem Mann, der nach eigenem Bekunden seit mehr als 30 Jahren arbeitslos gewesen ist und dessen großes Lebensmotto sich mit „Arbeit ist scheiße!“ umschreiben lässt. Sein Name: Arno Dübel. Monatelang führte BILD den damals 54-jährigen Hamburger als Musterbeispiel des deutschen Arbeitslosen vor, der es sich in der sozialen Hängematte gemütlich mache und obendrein all jene verhöhne, die einer regelmäßigen Erwerbsarbeit nachgehen. In 37 Artikeln des Jahres 2010 stand durchgehend das arbeitsscheue Verhalten des Langzeiterwerbslosen am Pranger, während die rüden Schlagzeilen inhaltlich immer mal wieder variierten.

Dübel selbst schien dieses Spiel gerne mitzuspielen. Genüsslich breitete er seine arbeitsscheue Einstellung aus uns saß dabei nachmittags vor dem Fernseher und stopfte sich Bier trinkend seine Zigaretten. Mit 16 Jahren, berichtete BILD, habe er eine Malerlehre angefangen, aber nicht abgeschlossen. Arbeiten wolle er nun nicht mehr, denn: „Wer arbeitet, ist doch blöd!“ BILD schien den idealen Sozialschmarotzer gefunden zu haben und ließ inmitten der schwelenden Debatte um die Höhe der Hartz-IV-Regelsätze dann auch keine Gelegenheit mehr ungenutzt, ihn als Prototyp des deutschen Arbeitslosen vorzuführen. Mit Headlines wie „Deutschlands frechster Arbeitsloser – so gammelt er sich durch den Tag“ rief sie natürlich auch die Arge auf den Plan, die Dübel prompt zu Arbeit verdonnerte: „Deutschlands frechster Arbeitsloser muss jetzt bügeln“.

Andere Medien (u.a. „Kerner“, „Menschen bei Maischberger“) sprangen auf den Zug auf und luden Dübel zu Gesprächsrunden ein, in denen er seine Weltsicht darbieten durfte. Auch witterten jetzt Musikproduzenten ein gutes Geschäft: „Gar nicht übel! Arno Dübel soll Popstar werden“. Im September verbreitete das Blatt die Botschaft, er könne bald gar sein eigenes Bier mit dem Titel „Arnos Dübel“ verkaufen. Aber BILD verharrte vor allem in der selbst auferlegten Rolle als moralische Instanz. Einige Kostproben: „Arno Dübel: Ich kann auf Kommando kotzen!“, „Arno Dübel sogar zu faul zum Singen“ und „Jetzt bettelt Arno Dübel wieder um Stütze“. Wirkung zeigte der Meinungsfeldzug, als das Amt Dübel sämtliche Bezüge strich („Schluss mit Freibier und Kippen für Arno Dübel“), worauf im November der Tiefpunkt folgte: „Arno Dübel fliegt aus seiner Wohnung“.

Freilich sind solche Kampagnen nichts Neues. Für die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer sozialen Klassenzugehörigkeit gibt es in der Soziologie sogar einen Fachbegriff, der es bislang aber noch nicht in die Alltagssprache geschafft hat, obwohl er gut verständlich ist und das Problem klar benennt: Klassismus. Als Äquivalent zu Rassismus oder Sexismus meint Klassismus die niemals auf Fakten, sondern stets auf Stereotypen basierende Abwertung von armen oder von Armut bedrohten Menschen. Klassismus tritt dementsprechend dann auf, wenn Menschen aus der lohnabhängigen Klasse aufgrund einer von der Norm abweichenden Lebenssituation oder eines unerwünschten Verhaltens mit sozialem Anerkennungs- und ökonomischen Teilhabe-Entzug bestraft werden.

Gerade BILD betätigte sich schon in der Vergangenheit als eines der Hauptorgane des Klassismus. Manch einem wird etwa „Florida-Rolf“ noch geläufig sein, von dem BILD 2003 berichtete, er ließe sich seine Sozialhilfe aus Deutschland zugunsten eines ausschweifenden Lebensstils nach Miami Beach überweisen. Auch die Episode um den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck, der 2006 auf dem Wiesbadener Weihnachtsmarkt dem Arbeitslosen Henrico Frank zurief: „Wenn Sie sich waschen und rasieren, haben Sie in drei Wochen einen Job“, griff BILD zustimmend auf.

„Dem gehört mal richtig was auf die Fresse!“

Was den Fall Arno Dübel aus sozialwissenschaftlicher Sicht jedoch besonders spannend macht, ist neben der ungewöhnlichen Dauer der Kampagne auch die Möglichkeit, die Reaktionen der Leser unmittelbar verfolgen zu können. Denn alle Artikel sind auch online für jeden verfügbar und können von jedem anonym kommentiert werden. Bei einer qualitativen Inhaltsanalyse von 572 dieser Kommentare zeigte sich, dass mehr als 85 Prozent aller Kommentare eine eindeutig negative, ja oftmals feindselige Haltung zu Arno Dübel einnehmen. Die meisten Leser argumentieren hier auf einer grundsätzlichen Ebene und betrachten Dübel exakt in der Weise als typischen Hartz-IV-Empfänger, wie es BILD durch seine Berichterstattung zu beabsichtigen schien.

Die meisten Argumentationen fußen auf der Idee des verletzten Leistungsprinzips. Da Dübel keine als gesellschaftlich wertvoll erachtete Leistung erbringt und der arbeitenden Bevölkerung dafür auch noch undankbar erscheint, gilt Dübel als sonderlicher Faulpelz, der den Staat vorsätzlich betrügt. Deshalb stünde ihm noch nicht einmal ein Dach über dem Kopf zu („Soll er doch unter der Brücke pennen! Verdient hat er es!“), bestenfalls jedoch im Austausch gegen Arbeit ein Platz in einem „Auffanglager“. Die Wut auf Dübel geht so weit, dass manche Leser auch vor körperlicher Gewalt nicht zurückschrecken würden („Dem Dübel gehört mal richtig was auf die Fresse!“). Tatsächlich jedenfalls wurde er im Winter 2010 bei Aufnahmen zu einem seiner Lieder (u.a. „Der Klügere kippt nach“) auf Mallorca von einer Frau tätlich angegriffen und wüst beschimpft („Du Schwein verprasst hier mein Geld!“).

Für die meisten Leser ist klar, dass Dübels Verhalten hart sanktioniert werden müsse („Kann man den eigentlich verklagen?“), wobei die Forderungen bis zur Abschaffung des Sozialsystems reichen („Einen Sozialstaat, der solche A…löcher durchfüttert, braucht keiner!“). Immer wieder wird die Abwertung Dübels durch positive Selbstbezüge gerechtfertigt, wonach man selbst hart arbeiten müsse und dem Arbeitslosen damit ein schönes Leben finanziere. Ein Umstand, der umso außergewöhnlicher ist inmitten einer Weltwirtschaftskrise, in der weit mehr Steuergelder für Bankenrettungen aufgebracht werden als für Sozialleistungsbezieher.

Auch die vielfach bestätigte Tatsache, dass durch die aktivierende Arbeitsmarktpolitik die Gewährung von Hartz IV seit 2004 ausdrücklich an die Bedingung zur Aufnahme jeder einseitig vom Amt als zumutbar deklarierten Arbeit geknüpft ist, fand bei den BILD-Lesern keine Beachtung. Die politisch erzeugte und vor einigen Jahren von Franz Müntefering (SPD) mit einem Bibelzitat („Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“) auf den Punkt gebrachte Erwartung, sich der Gesellschaft permanent als nützlich zu erweisen, findet stattdessen in den allermeisten Kommentaren der Leserschaft ihre Bestätigung.

Warum aber dreschen die BILD-Leser auf einen besonders unsolidarisch agierenden Einzelfall ein, der jeden Monat lediglich 374 Euro erhält, während zugleich hochbezahlte deutsche Spitzensportler in Steuerparadiesen leben oder Top-Manager sich mit aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanzierten Rettungspaketen Bonuszahlungen in Millionenhöhe genehmigen dürfen, ohne dass hier auch nur annähernd so aggressiv gepöbelt wird wie gegen Arno Dübel? Warum also wird der Aktivierungsdruck ausgerechnet von den lohnabhängig Beschäftigten so stark reproduziert und gegen die ökonomisch Schwächsten eingesetzt?

Angst vor dem sozialen Absturz wirkt verrohend

Der Schlüssel zur Erklärung dieses Phänomens dürfte einerseits in der klassenspaltenden Tendenz der Meinungshegemonie liegen. Erwerbslosigkeit gilt grundsätzlich als verdächtig, weil das Leben von Nicht-Erwerbstätigen über Steuern finanziert wird. Andererseits ist ein Fall wie Arno Dübel aber auch eine willkommene Gelegenheit, sich selbst sozial aufzuwerten. Der Aktivierungsdruck wird als naturgegeben akzeptiert, und man selbst entgeht durch die aggressive Abgrenzung zu Aktivierungsverweigerern der Gefahr, klassistisch diskriminiert zu werden. Klassismus wird also eingesetzt, um den Klassismus am eigenen Leib zu verhindern.

Die in BILD verbreitete Diskriminierung durch die Lohnabhängigen gegen alle Erwerbslose anhand des Extremfalls Arno Dübel speist sich also vor allem aus der Angst vor Anerkennungsentzug. Damit die eigene Identität inmitten der omnipräsenten Angst vor dem sozialen Abstieg verkraftbar bleibt, müssen die angestauten Frustrationen sich entladen. Erst durch diese Finte wirkt diese Form des Klassismus systemstabilisierend, denn sie macht sich die wichtigste Quelle des menschlichen Strebens zur Waffe: das Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Achtung, nach sozialer Anerkennung und Liebe.

So verwundert es kaum mehr, dass die mit ökonomischen Interessen behaftete BILD mit ihren vom sozialen Abstieg bedrohten Lesern eine erfolgreiche Allianz schmieden und eine Kampagne der pauschalen Denunziation aller ALG-II-Bezieher aufziehen konnte. Was der Politik wiederum durchaus gelegen kam, denn so wurde von dem durch das Bundesverfassungsgericht diagnostizierten Hauptproblem – dem viel zu geringen Regelsatz für Kinder – geschickt abgelenkt. Stattdessen entwickelte sich die Debatte in die pauschal diskriminierende Richtung mit der Frage, ob der Regelsatz denn überhaupt einen Anteil für Alkohol und Tabak enthalten solle. Folgerichtig strich die Bundesregierung am Ende des Jahres im Zuge einer Erhöhung des Regelsatzes um nur fünf Euro diesen Posten und ersetzte ihn durch einen Anteil für Mineralwasser.

Ein entwürdigender Vorgang, der kaum für Empörung sorgte: Der Staat unterstellt Menschen im Hartz-IV-Bezug seither offiziell nicht nur in bester BILD-Manier, sie würden den ganzen Tag faul saufend und rauchend auf dem Sofa sitzen, sondern er schreibt ihnen obendrein vor, was sie konsumieren dürfen und was nicht. Und BILD hat einmal mehr erfolgreich Meinung gemacht. Es bedarf sicher keiner allzu großen Prognosekraft, um vorherzusehen, dass dieses „Dreckblatt, das so widerlich ist, dass man jeden toten Fisch beleidigt, den man darin einwickelt“ (Volker Pispers) sich auch weiterhin als Steigbügelhalter politischer Entscheidungen präsentieren wird, welche die wirtschaftlichen Interessen des Springer-Konzerns bedienen.

Christian Baron / Britta Steinwachs: Faul, frech, dreist. Die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch BILD-Leser*innen. Edition Assemblage, Münster 2012, 143 Seiten, 14,80 Euro.

Print Friendly, PDF & Email

von

Schreiben Sie einen Leserbrief

Angabe Ihres tatsächlichen Namens erforderlich, sonst wird der Beitrag nicht veröffentlicht!

Bitte beachten Sie unsere Kommentarrichtlinien!

Noch Zeichen.

Bitte erst die Rechenaufgabe lösen! * Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.