Gelebtes Hörspiel

Der Autor Finn-Ole Heinrich tritt heute mit dem "Unsortierten Orchester" in der "Grünen Rakete" auf. Foto: Promo„Manchmal ist eine Schreibblockade für die Leser ein Segen“, meinte einst Marcel Reich-Ranicki, welcher durch den ein oder anderen Autor gute Gründe hätte, sich im Grabe umzudrehen. Da ihm jedoch die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, in Frieden zu ruhen, braucht’s Schreibflüsse, welche zugunsten des Lesegenusses abseits von ungekonntem Abschreiben durch verwöhnte Einzelkinder und literarischen Ergüssen von Bestseller-Einkaufsexperten emporquellen. Eben hier tritt der junge Autor und Filmemacher Finn-Ole Heinrich in Erscheinung, lässt Reich-Ranicki in der Ursprungslage verweilen und verursacht eine angenehme Sprachlosigkeit beim Publikum. Derzeit ist er mit dem „Unsortierten Orchester“ auf „Cliffhanger“-Tour und zeigt Trier heute Abend, warum Vorlesen zum Erlebnis werden kann.

TRIER. Die Rezitation, also unter anderem das Vorlesen von Texten, hat eine lange Tradition, die zum Segen aller Zuhörwilligen nie verloren gegangen ist, sondern lediglich auf eine interessante Art und Weise weiterentwickelt wurde. Weder jene besonnenen, Märchen vorlesenden, auf dem Sofa thronenden Omas mit der Häkeldecke auf dem Schoß, noch jene Eltern, die insgeheim selbst, gleich ihren Kindern, Freude an den Gute-Nacht-Geschichten haben, mussten weichen. Der (Zu-)Hörgenuss erweitert sich in dem Sinne, dass uns heute Hörbücher und Hörspiele im Alltag begleiten und manche schöne Auszeit gewährleisten können.

Der junge Schriftsteller und Preisträger (Jugendliteraturpreis 2012) Finn-Ole Heinrich gibt sich beidem hin. Er liest seine Hörbücher selbst ein und beherrscht die Kunst des gelebten Hörspiels. Seine Gedanken nehmen nicht nur durch seine Texte, sondern auch durch seine Stimme Form an. Er ist zugleich der kleine Frerk, der mithilfe von in Müsli schwimmenden Zwergen seine wahren Stärken erkennt, als auch die junge Susan, der es auf die Nerven geht, dass ihr Partner nicht damit klarkommt, dass sie vor kurzem bei einem Autounfall ein Bein verlor und trotzdem auf Bäume klettern möchte.

Wenn Finn-Ole Heinrich liest, ob vor Publikum oder im Studio, dann schließt er innerlich die Augen. „Ich versuche, nur den Text zu sehen, dahinter in meinen eigenen Film abzugleiten und zur Stimme der Geschichte zu werden. Ich glaube, am besten gelingt mir das Vorlesen wirklich, wenn ich alles um mich rum vergesse und die Spannung voll da ist. Dann fühle ich, ganz weit entfernt natürlich, das, was der Erzähler oder die Erzählerin fühlt. Ein bisschen wie ein Radio, das ein Signal aus der Luft fängt und hörbar macht.“

Dieses Signal wird jedoch nicht nur von einer, sondern gleich von mehreren Personen eingefangen. Seit mehr als einem Jahr wird Heinrich auf der „Cliffhanger“-Tour musikalisch vom „Unsortierten Orchester“ aus Oldenburg begleitet. Bestehend aus Klangsammlern, Ruhrpottphilosophen und Musikstudenten wendet sich jenes Orchester, was wohl als multiple Personifikation des strukturierten Chaos gelten kann, sowohl herkömmlichen Instrumenten wie der Klarinette oder auch dem Kontrabass zu, frönt aber auch der hohen Kunst der Zweckentfremdung. Dass man Thermoskannen, Sägen und einen Gameboy mit Jazz in Einklang bringen kann, wird innerhalb des anderthalbstündigen Programms unter Beweis gestellt.

Thematisch bettet sich die Erzählung „Cliffhanger“ in einen Bereich ein, in dem mancher Leser einen literarischen erhobenen Zeigefinger oder gezwungene Betroffenheit erahnen würde. Der kleine Jaromir lebt bei seiner Großmutter, die für ihn sorgt, da seine Mutter sich nicht mal selbst Frühstück machen kann. Wo mancher Schriftsteller angestrengt sozialkritisch wirkt und sich in düsteren Beschreibungen verirrt, die mehr nerven, als Taschentücher kosten, bringt Heinrich den Spruch „Wo Menschen sind, da menschelt’s“ auf den Punkt. Ihm gelingt ein gesundes Zusammenspiel zwischen dem nötigen Feingefühl und der Ironie, die nicht nur der Fiktion, sondern auch dem Leben innewohnt.

Die Werke des jungen Autors kann man längst nicht nur in Büchern und vor allem nicht nur in Trier erleben. Sein Jugendroman „Räuberhände“ ist mittlerweile zur Pflichtlektüre für viele Gymnasialklassen in Hamburg geworden, und beispielsweise auch der kleine Frerk treibt nun in der Neuköllner Oper sein Unwesen. Für den eigentlich recht schüchternen Schriftsteller fühlt sich die Auseinandersetzung des Publikums mit seinen Ideen folgendermaßen an: „Wenn man mit den Interpretationen einverstanden ist und so tolle Dinge entstehen, dann kann man das wohl nur genießen. Kluge, tolle, begabte Menschen denken an meiner Vorlage rum, interpretieren, adaptieren, inszenieren, bebildern, spielen. Das ist für meine Arbeit auch ein wunderbarer Spiegel und es gibt den Projekten so einen Ausdruck von Lebendigkeit. Mir signalisiert das: da können Andere was mit deiner Geschichte anfangen.“

Finn-Ole Heinrich fertigt gemeinsam mit dem „Unsortierten Orchester“ Skizzen von zwischenmenschlichen Situationen an, die jeder für sich allein nochmal ausarbeiten darf, wenn er oder sie will. So auch heute. Um 20 Uhr in der „Grünen Rakete„, die auf der Homepage des 31-Jährigen mutmaßlich durch einen sympathischen Verhörer zur „Gewinnerrakete“ wurde.

Anne Schaaf

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