„Das wäre ein Phyrrussieg für die Demokratie“

Kürzlich lud die hochrangige Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ eine Reihe von Experten nach Berlin, um deren Ansichten zum Thema „Strukturwandel der politischen Kommunikation und Partizipation“ zu erfahren. Mit von der Partie war der Trierer Politikwissenschaftler Dr. Markus Linden. Der Experte für neue Repräsentations- und Partizipationsformen warnt vor überzogenen Ansprüchen an den politischen Nutzen sozialer Netzwerke wie Facebook und will das Losverfahren aus der griechisch-antiken Versenkung holen. Im Gespräch mit 16vor-Mitarbeiter Johann Zajaczkowski erklärt Linden, wie man die kommunale Demokratie retten könnte, weshalb die Kommunalpolitiker selbstbewusster auftreten sollten, und was es mit dem Erfolg der Piraten auf sich hat. 

16vor: Herr Dr. Linden, seit den 90er-Jahren wurden die Kommunal- und Landesverfassungen durch direkte und kooperative Beteiligungsformen bereichert. Nun mehren sich die Fälle, in denen mithilfe sozialer Netzwerke Einfluss auf politische Entscheidungen genommen wurde – Stichwort ACTA-Proteste. Sollten wir die repräsentative Demokratie nicht endlich zu Grabe tragen und Platz machen für digitale und direktere Formen der Volksherrschaft?

Markus Linden: Mit innovativen Partizipationsformen sind immer sehr hohe Ansprüche verbunden, die man nicht einlösen kann. Die direkte Demokratie beispielsweise wird gemeinhin als konsensuelles Verfahren wahrgenommen, stellt aber im Endeffekt eine strikte Ja-Nein-Entscheidung dar, bei der sich der Fragesteller in einer sehr starken Machtposition befindet. Zudem sind insbesondere Formen der digitalen Beteiligung mit einem Rationalitätsanspruch verbunden, der der Wirklichkeit nicht gerecht wird. Politik läuft immer auf Wertdifferenzen hinaus; diese endgültig begradigen zu wollen, ist illusorisch.

Ein großer Vorteil der repräsentativen gegenüber der direkten Demokratie besteht darin, dass man jemanden für seine Politik verantwortlich machen und abwählen kann. Das ist Minimalstandard, das trennt die Demokratie von der Diktatur. Ich bin nicht strikt gegen neue Politikformen, aber sie werden die Demokratie nicht neu erfinden.

16vor: Aber beweist nicht der Wahlerfolg der Piraten im Saarland, dass Innovationen bisweilen ein guter Weg sein können, um jene wieder für Politik zu begeistern, die der etablierten Partizipationsformen überdrüssig sind?

Linden: Die Wahlen im Saarland zeigen vor allem, dass die traditionellen Formen der Demokratie noch funktionieren. Schließlich gehen auch die Piraten den Weg über die Parlamente. Bei ihnen manifestiert sich eine neue Konfliktlinie – Netzfreiheit versus Netzkontrolle –, die von der etablierten Politik bislang nicht ausreichend abgedeckt wurde. Dass dieses Thema junge Leute wieder an die Wahlurnen bringt, ist zu begrüßen.

16vor: Die mangelhafte Kommunikation zwischen Parteien und Bürgern wird oftmals als Grund für die vielbesagte Krise der Parteien genannt. Können virtuelle Formen der politischen Kommunikation die Kluft wieder schließen?

Linden: Das zentrale Problem in unserem politischen System – und dies gilt auch für die kommunale Ebene – ist die Tatsache, dass die möglichen Alternativen der Parteien für die Bürger nicht mehr transparent sind. Wenn die Parteien nun versuchen, ihre Ideen über digitale Beteiligung sehr eng an den Willen der Bürger anzukoppeln, dann stellen sie zwar eine gewisse Identität mit den Internetaktivisten her, bieten aber noch lange keine Alternativen. Hinzu kommt, dass bei jeglichen Partizipationsformen die Faustregel gilt: Je anspruchsvoller die politische Partizipation, desto stärker wird die Beteiligung daran durch Bildung und Einkommen beeinflusst.

16vor: Trifft das nicht ebenso für die traditionellen Partizipationsformen zu?

Linden: Bei Wahlen ist das viel weniger der Fall. Wenn sie massenhaft auf neue Politikformen setzen, dann führt das zu einer Entwertung des Wahlvorgangs. Benachteiligte Schichten gehen dann überhaupt nicht mehr hin. Das wäre ein Pyrrhussieg für die Demokratie.

16vor: Ende des vergangenen Jahres wurde bekannt, dass die Stadt den Pachtvertrag mit der Aral-Tankstelle in der Ostallee nicht verlängern wird. Der Beschluss wurde infolge einer massiven Mobilmachung im Netz wieder einkassiert. Dürfen wir uns in Zukunft auf eine Diktatur wutbürgerlicher „Gefällt-Mir“-Aktivisten einstellen?

Linden: Eine „Diktatur der Aktiven“ wird es eher auf der überkommunalen Ebene geben, wenn es um selbstreferentielle Themen wie das Internet geht. Die Einsatzmöglichkeiten digitaler Beteiligungsformen sehe ich klar im lokalen Rahmen. Das Beispiel ‚blaue Lagune‘ zeigt, dass sich da eine Öffentlichkeit bildet, die vorher durch den Stadtrat nicht angesprochen wurde. Dass dieser seine alte Entscheidung wieder rückgängig macht, zeigt die Angst, die gegenüber dem Internet häufig noch herrscht. Die sollten ruhig ein wenig selbstbewusster sein.

16vor: Die Entscheidung für die Aufkündigung des Pachtvertrags fiel in einer nicht-öffentlichen Sitzung des zuständigen Dezernatsausschusses. Hätte ein gewisses Maß an Transparenz solchen Zündstoff nicht schon viel eher entschärfen können?

Linden: In der Tat sehe ich darin ein zentrales Problem. Ich bin für eine radikale Öffentlichkeit bei Ausschusssitzungen, weil dadurch die Haltung der Bürger im Vorfeld deutlich werden kann und nicht erst nachträglich durch Social-Media festgestellt werden muss.

16vor: Dagegen wird gerne das Argument ins Feld geführt, dass die Politik auf Vertraulichkeit angewiesen sei.

Linden: Hinterzimmerpolitik lässt sich nur bekämpfen, indem man möglichst viele Hinterzimmer dichtmacht. Politik arbeitet stets unter Zeitdruck, und wenn die Rückzugsorte nicht mehr bereitstehen, dann werden die Konflikte in den Ausschüssen irgendwann öffentlich.

16vor: Sie fordern die Einrichtung eines Bürgerausschusses, dessen Mitglieder per Losverfahren ausgewählt werden. Soll gesetzlich verordneter Zwang nun freiwilliges Engagement ersetzen?

Linden: Das Losverfahren ist ein klassisches demokratisches Prinzip, und natürlich müsste man die Beteiligung entsprechend goutieren – etwa durch Sitzungsgeld. Unwillige sollte man nicht gerade polizeilich abführen können, aber sie stünden zumindest unter Rechtfertigungszwang. Von einem per Losverfahren besetzten Bürgerausschuss geht eine große Integrationswirkung aus: Menschen aus sozial schwächeren Milieus nehmen daran teil, gehen anschließend wieder in ihren Kiez zurück und behaupten plötzlich: „so schlecht ist das gar nicht, was die da machen“. Hinzu kommt, dass solch ein Ausschuss sich problemlos in die bestehende Kommunalarchitektur einfügen würde. Jedoch sollte von vornherein klar sein, dass die Bürger nur konsultativ tätig werden und der Stadtrat das letzte Wort hat.

16vor: Nun vegetiert die Gremienlandschaft in Trier ja nicht gerade vor sich hin. Wir haben einen Behindertenbereit und einen für Migration und Integration, ein Jugendparlament und bald wohl auch ein entsprechendes Gremium für Senioren.

Linden: Das alles muss nicht per se eine schlechte Sache sein. Sie haben jedoch das Problem, dass sie Gruppen festlegen, die vielleicht gar kein festes Gruppenbewusstsein haben oder politisch benachteiligt sind. Ein Rentner mag sich viel eher als Sozialdemokrat oder als Konservativer denn als Rentner begreifen. So kommt es immer zu Verkürzungen. Beim Losverfahren haben sie dieses Problem nicht, da werden immer alle Gruppen vertreten.

16vor: Wie ist Ihre Haltung gegenüber kooperativen Beteiligungsformen wie dem Bürgerhaushalt, der auch in Trier praktiziert wird?

Linden: Auf lokaler Ebene habe ich ein Problem damit, weil sie sehr stark von der Verwaltung dominiert werden. Ich würde sie an das Parlament anbinden.

16vor: Was kann man Ihrer Ansicht nach tun, um die kommunale Demokratie zu revitalisieren?

Linden: Das Parlament muss selbstbewusster auftreten. Es wäre hilfreich, die Parteigrenzen stärker hervorzuheben. Es sollte schon deutlich werden, dass jemand mit einem SPD-Parteibuch, der für die SPD im Stadtrat sitzt, dort auch sozialdemokratische Positionen vertritt. Bei der Herstellung von Öffentlichkeit könnte man insbesondere auf das Internet zurückgreifen. Wieso nicht einfach alle Ausschusssitzungen per Webcam übertragen? Dann wäre der Stadtrat gegenüber einem neuen „Shitstorm“ im Internet wesentlich besser gewappnet. Im Kern geht es auch auf kommunaler Ebene darum, das Verantwortlichkeitsprinzip aufrecht zu erhalten. Nur wenn Entscheidungen zugerechnet werden können und Alternativen bereit stehen, kann es zu einem Wechselspiel von Repräsentanten und Repräsentierten kommen.

Veranstaltungshinweis: Mit dem Thema „Facebook in der Stadtplanung? Bürgerbeteiligung in Trier“ befasst sich am Montag, 7. Mai, eine Diskussionsveranstaltung der SPD-Stadtratsfraktion im Kurfürstlichen Palais. Auf dem Podidum werden OB Klaus Jensen, die Trierer SPD-Chefin Malu Dreyer und der Politikwissenschaftler Professor Winfried Thaa sitzen. Weitere Diskutanten sind Professor Bernd Hamm vom Verein Lokale Agenda 21 Trier e.V., sowie der Vorsitzende von liquid democracy e.V., Daniel Reichert. Die Veranstaltung beginnt um 19 Uhr.

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