„Es gibt kein Recht auf Exklusion!“
Nach zwölfjähriger Forschungstätigkeit legt der Sonderforschungsbereich (SFB) 600 an der Universität Trier Fächer übergreifende Ergebnisse seiner Arbeit über Fremdheit und Armut, Inklusion und Exklusion vor. Ein passender Zeitpunkt, denn der öffentliche Umgang mit Themen wie der Einwanderung aus Südosteuropa oder der Flüchtlingspolitik beweist einmal mehr die Salonfähigkeit bestimmter Exklusionsreflexe. 16vor-Mitarbeiter Johann Zajaczkowski unterhielt sich mit der Herausgeberin, Literaturwissenschaftlerin und Privatdozentin Dr. Iulia-Karin Patrut, über die gesellschaftsstrukturierende Funktion von Exklusion, mögliche Überwindungsstrategien und die Kollektivangst der Deutschen vor Osteuropa.
16vor: Sie schreiben, dass die Kategorien „Arme“ und „Fremde“ besonders geeignet sind, um das Phänomen „Inklusion/Exklusion“ zu untersuchen. Welche Gründe gibt es hierfür?
Dr. Iulia-Karin Patrut: „Armut“ und „Fremdheit“ sind zwei Faktoren, die zur Exklusion gewissermaßen prädestinieren, weil viele Gesellschaften so funktioniert haben, dass Arme und Fremde in besonderem Maße von Exklusion bedroht waren. Dabei kann Fremdheit ganz unterschiedliche Bedeutungen annehmen und sich auf religiöse, sexuelle, aber natürlich auch rassistische Kategorien beziehen. Darüber hinaus handelt es sich um ein aktuelles gesellschaftliches Problem. Viele Menschen sind von Exklusion betroffen, doch die Regeln, nach denen Inklusion funktioniert, sind gar nicht so klar. Vor diesem Hintergrund hat sich der SFB mit der Geschichte von Inklusion und Exklusion beschäftigt, um grundlegende Auskünfte über Inklusions- bzw. Exklusionsmechanismen zu erhalten.
16vor: Tatsächlich zeigt sich, dass bestimmte Inklusions- und Exklusionsmuster sehr lange zurückliegend beobachtbar sind. Der Ausschluss wird gar als zentrales Element beim Aufbau sozialer Ordnung bezeichnet. Ist die Exklusion also ein Grundmuster menschlichen Verhaltens?
Patrut: Ich glaube nicht, dass es ein universelles menschliches Bedürfnis nach Exklusion anderer gibt. Es gibt kein vermeintlich anthropologisches Recht auf Exklusion. Nichtsdestotrotz hat es im Laufe der Geschichte bislang immer Grenzziehungen gegeben. Damit meine ich nicht nur zwischenstaatliche Grenzen, sondern auch Grenzen innerhalb von Staaten, etwa in Form von Schichtzugehörigkeit. Man muss Inklusion/Exklusion tatsächlich als gesellschaftsstrukturierenden Faktor ansehen. Das einzige Modell ohne Exklusion wäre eine Weltgesellschaft, zu der alle gehören. Dies bleibt jedoch vorläufig eine philosophische Idealvorstellung.
16vor: In einigen Ländern des ehemaligen Jugoslawiens trägt auch heute noch ein niedriger zweistelliger Prozentsatz von Menschen bei Bevölkerungsumfragen dezidiert „jugoslawisch“ an die Stelle der ethnischen Selbstbezeichnung ein. Sollte man die ehemaligen sozialistischen Staaten in dieser Hinsicht aufgrund ihrer Inklusionsbemühungen loben?
Patrut: In einigen Gesellschaftsformen gab es tatsächlich graduell weniger Exklusion innerhalb der Staatsgrenzen. Allerdings waren in den sozialistischen Gesellschaften viele andere Gruppen stärker exkludiert, etwa Homosexuelle und behinderte Menschen. Man sollte natürlich darüber nachdenken, ob es in den heutigen kapitalistischen Gesellschaften nicht zu einer subtilen Exklusion sehr großer Gruppen kommt. Bei der Frage des Zugangs zur Bildung etwa sind Menschen aus ärmeren Familien oder Menschen mit Migrationshintergrund wesentlich stärker benachteiligt, also dies in sozialistischen Staaten der Fall war.
16vor: Gerade bei demokratisch-kapitalistischen Gesellschaften ist zu beobachten, dass sie einerseits auf einem starken Inklusionsversprechen gründen, andererseits auf der Ausbeutung derjenigen basieren, die eben nicht in diesem Gemeinwesen leben können oder dürfen.
Patrut: Zuletzt offenbarte sich dieser Widerspruch bei der Zuwanderungsdebatte. Gerade Deutschland hat in hohem Maße von der EU-Osterweiterung profitiert. Zum einen haben sich dort große Absatzmärkte und damit Exportmöglichkeiten aufgetan, zum anderen hat Deutschland diese Staaten als Produktionsstandorte mit niedrigen Löhnen entdeckt. Wenn es aber um die Inklusion einzelner Personen aus diesen Staaten geht, dann werden sofort wieder Exklusionsreflexe aktiv. In dieser Hinsicht stellt die Zuwanderungsdebatte ein aufschlussreiches Fallbeispiel dar.
16vor: Wieso das?
Patrut: Weil dabei in einigen Medienbeiträgen altbekannte – orientalistische – Darstellungsmuster aktualisiert wurden: Osteuropa wurde als armes und elendes Gebiet dargestellt, welches Ängste und vielleicht auch Ekel hervorruft. Schmutzig aussehende Menschen mit unordentlichen Koffern streifen durch dunkle Gassen, etwas in dieser Art. Es lässt sich geradezu mit Händen greifen, dass diese Menschen gleich Hartz-4 einfordern möchten. Solche Vorstellungen haben eine lange Tradition.
16vor: Im vergangenen Herbst machte der Fall eines blonden Romni-Mädchens aus Griechenland Schlagzeilen. Deren Eltern wurden reflexartig der Kindesentführung bezichtigt. Ähnliche Diffamierungen finden sich heute noch gegenüber jüdischen Mitmenschen als „Kindesmördern“. Warum waren und sind insbesondere diese beiden Gruppen so stark von Exklusion betroffen?
Patrut: Es handelt sich hierbei um stark im kollektiven Gedächtnis verankerte Exklusionsstrategien oder auch Stigmata. Diese können bei Bedarf geradezu reflexartig mobilisiert werden. Das Fatale an solchen Stigmata ist, dass sie absolut nichts mit der Realität zu tun haben. Dabei erfüllen sie in der psychischen Ökonomie der Mehrheitsgruppe eine wichtige Funktion: Es bereitet Zugehörigen der Mehrheitsgruppe eine gewisse Lust, über die vermeintliche Minderwertigkeit der Ausgeschlossenen zu sprechen. Dabei versichern sich die Inkludierten gegenseitig, dass es die stigmatisierten Menschen angeblich verdienen, exkludiert zu werden. Im Falle der Sinti und Roma handelt es sich insbesondere um einen kulturalistischen Rassismus, das heißt, ihnen wird ein angeblich unveränderliches Verhalten unterstellt. Juden waren über viele Jahrhunderte von einem religiösen Antijudaismus betroffen.
16vor: Ein Beitrag widmet sich der Exklusion in der Antike beziehungsweise in der griechischen Polis. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die ökonomische Situation immer stärker zur hauptsächlichen Inklusionsbedingung wurde und die angenommene Trennung zwischen Bürgern und Nichtbürgern so nicht länger vertretbar sei.
Patrut: Die spannende Frage ist: Was passiert mit reichen Fremden? In der Tat hatten diese im Laufe der Geschichte bessere Inklusionschancen. In der Antike etwa haben sich die sogenannten Metöken (dauerhaft in der Stadt lebender Fremder ohne Bürgerrecht, Anm. d. Red.) allmählich Inklusionsrechte erkämpft. Sie haben Vereine gegründet und die Strukturen der Athener kopiert.
16vor: Teilweise werden in dem Band auch sehr konkrete politische Phänomene behandelt. Einige Aufsätze beschäftigen sich mit sozialer Inklusion bzw. Exklusion im städtischen Raum und nehmen dabei die Situation in Trier oder die Institution der Ausländer- und Integrationsbeiräte in den Blick.
Patrut: Die Autoren dieses Aufsatzes sind der Frage nachgegangen, inwiefern Arme tatsächlich in die sie betreffenden Entscheidungen einbezogen sind. Dies zu leisten, wäre eigentlich Aufgabe der Politik oder der Ökonomie. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Kommunikation zwischen dem System „soziale Hilfe“ und dem System „Politik“ zwar vorhanden, aber durchaus noch ausbaufähig ist. Es besteht die Gefahr einer in sich geschlossenen Sphäre, in der einige wenige Ratsmitglieder, Sozialarbeiter und Arme zwar miteinander sprechen, dabei jedoch abgekoppelt bleiben von den eigentlichen Entscheidungszentren.
16vor: Insgesamt scheint sich eine implizite Kritik am Begriff der „Integration“ durch den Band zu ziehen.
Patrut: Der Begriff der Integration ist zu diffus. Auf der einen Seite kann er für eine Art Zwangsassimilation stehen. Dabei muss man sich fragen, an welche „Leitkultur“ es sich gänzlich anzupassen gilt. Auf der anderen Seite steht er für eine Art kulturellen Essenzialismus beziehungsweise das alte Diktum von der vermeintlichen Toleranz, die jedoch eine Ethnisierung betreibt und Individuen auf Gruppenzugehörigkeiten festschreibt – wenn beispielsweise Muslime gut in die wirtschaftlichen Prozesse inkludiert sind, nach Feierabend jedoch unter sich bleiben, womöglich keine deutsche Staatsangehörigkeit erhalten usw. Der Begriff Inklusion/Exklusion erlaubt einen etwas genaueren Blick auf die komplexen Mechanismen des Ein- und Ausschlusses.
Die bisherigen Forschungsergebnisse des SFB 600 „Fremdheit und Armut“ können unter http://www.sfb600.uni-trier.de/ eingesehen werden.