„Es geht mir um eine Verzauberung der Außenwelt“

Fast permanent am Zeichnen: Harald Naegeli. Foto: privatHarald Naegeli wurde Ende der 70er Jahre als „Sprayer von Zürich“ bekannt. Um gegen die Unwirtlichkeit der Städte zu protestieren, schuf er Bilder, die damals als Sachbeschädigung galten und heute unter Denkmalschutz stehen. Die Ausstellung „Zeichnen im Raum“ in der Europäischen Kunstakademie zeigt ab heute (Vernissage: 19.30 Uhr) bis zum 14. Februar einen Ausschnitt seines vielfältigen Oeuvres – und gibt einen konkreten Eindruck, wie der Künstler arbeitet. Die Werkschau ist Teil eines Projekts, das im November mit einem Vortrag Naegelis in Trier begann und von Studenten im Rahmen des Seminars „Street Art“ in Zusammenarbeit mit der Graphischen Sammlung der Universität Trier und der Kunstakademie umgesetzt wird.

16vor: Welchen Themen widmen Sie sich in Ihren Werken und was ist das Gemeinsame aller Zeichnungen und Radierungen?

Harald Naegeli: Ich zeichne eigentlich permanent und zwar praktisch ausschließlich Naturdinge: Bäume, Wolken, Wasser. Fast keine Gegenstände, Architektur nur teilweise. Ich schaue aber nicht wie ein friedlicher Bürger auf die Schönheit der Natur, weil das kein professionelles Verhalten eines Zeichners gegenüber der Natur ist. Bei dem Blick des Bürgers kommt seine Emotionalität zu Geltung. Besonders bei Tieren – er hat Tiere gern, er liebt sie, aber die Liebe tuts nicht. Da ist der Intellekt und das Auge entscheidend und die geschulte Hand. Die gesamte Erscheinung der Welt kann nur mit Hilfe der Abstraktion festgehalten werden.

16vor: Sie zeichnen bereits seit Ihrer Kindheit und haben während Ihrer Zeit in Paris (Besuch der École des Beaux-Arts) die alten Meister studiert. Wie hat das ihre heutige Kunst beeinflusst?

Naegeli: Ich vermute, dass das einen Einfluss hat. Mein ganzes Leben ist eigentlich eine Auseinandersetzung mit der Natur und mit der Kunst.

16vor: Ihr Oeuvre ist sehr vielseitig und umfasst unter anderem Radierungen, Graffiti und einen Zyklus von fast 500 großformatigen Zeichnungen, der Urwolke. Wo, wenn man das sagen kann, liegt der Schwerpunkt in ihrem Gesamtwerk?

Naegeli: Man kann sagen, der Mittelpunkt meines Daseins oder meines Lebens ist die „Urwolke“. Das ist ein Konglomerat von Millionen Pünktlein und Strichlein. Und es ist wie ein Gehäuse. Das heißt, ich bewege mich geistig immer in diesem Gehäuse der Wolke.

16vor: Was ist das Besondere an diesem Konglomerat?

Naegeli: In der „Urwolke“ ist kein narrativer Moment, sondern es ist eine totale Abstraktion. Es ist wichtig bei den „Urwolken“, dass die freistehend sind, dass sie im Raum stehen, weil sie dann stärker die Räumlichkeit, in der wir uns bewegen, assoziieren.

16vor: Wie kann man sich den Entstehungsprozess der „Urwolke“ vorstellen?

Naegeli: Die Werke der „Urwolke“ entstehen über Jahre. Es ist zu bemerken, dass die „Urwolke“ nie ein Ende hat. Das Wesentliche ist, dass ich diese endlose Zeichnung bis zu meinem Lebensende weiterführe und dann ist Schluss. Im praktischen Sinn gibt es keine Weiterführung. Aber im Prinzip, so lange ich lebe, verändern sich diese Wolkenteile.

Das Hauptproblem ist, dass ich keine Möglichkeit habe, eine Entscheidung zu treffen, ob die Wolke genügend dicht oder genügend leicht ist. Denn wenn die Wolke zu viel bearbeitet wird, dann stürzt sie ab, weil sie zu schwer geworden ist. Das ist schon mehrfach passiert. Das ist eigentlich ein grundlegendes Problem für jeden Künstler: wann aufhören? Aber im Wesen dieser Wolke ist ein Aufhören gar nicht impliziert, und ich sehe auch, dass sich meine Kritik ändert. In dem Sinn: Was ich gestern gut fand, finde ich am nächsten Tag oder nächste Woche wieder fragwürdig oder umgekehrt.

Hier hat sich Naegeli verewigt. Foto: privat16vor: Sie sagten einmal, dass Ihre Wolkenteile eine „innere Kosmologie“ ausdrücken und damit den Graffiti gegenüberstehen. Wo genau liegt der Unterschied zwischen ihren „Urwolken“ und den Sprayzeichnungen im öffentlichen Raum?

Naegeli: Auf jeden Fall in der Technik. Aber ich möchte in diesem Zusammenhang von dem Problem des Künstlers sprechen. Der Künstler zeichnet eigentlich schon aus Neigung permanent, aber in einem gesicherten Umfeld. Bei mir ist es so: Ich zeichne eigentlich immer. Im Skizzenbuch, im Atelier, und dieser zeichnerische Ausdruckszwang wird manchmal so stark, dass ich ein Bedürfnis habe, dieses Zeichnen öffentlich zu machen. Bei allen Künstlern drängt sich etwas von innen nach außen, aber in der Tradition ist es so, dass die Innenräume, also die Ausstellungsräume immer eine Art politische Unverbindlichkeit sind. Man kann die Sachen anschauen oder nicht, man kann sie kaufen oder nicht. Aber im politischen Raum ist ein ganz anderer Widerstand und eine ganz andere Rezeption vorhanden. Man fordert das kapitalistische Denken der Gesellschaft heraus. Es geht mir aber nicht um die Provokation in diesem banalen Sinn, wie das sehr oft gemacht wird. Es geht mir um eine Verzauberung der Außenwelt. Also das, was sich in der „Urwolke“ zusammenbraut, wird dann letztlich mit einer Sprayzeichnung nach außen reflektiert.

16vor: Das Kunstverständnis hat sich mittlerweile verändert. Während ihre Sprayzeichnungen 1981 zu einem Haftbefehl führten, steht heute ein Werk von Ihnen am Deutschen Seminar der Universität Zürich unter Denkmalschutz. Was können Sie uns dazu sagen?

Naegeli: Als ich vor über 30 Jahren die allerersten Figuren gemacht habe, gab es eine ungeheure Resonanz. Damals haben die Menschen um diese Figuren herumgestanden und diskutiert. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen. Aber damals war das wie ein Schock, weil das eine Novität war. Da war ein geheimnisvoller Mann, der nachts solche Figuren an die Wände appliziert hatte, und das war natürlich voller Geheimnisse. Nackte Betonteile, der Purismus in Zürich, die Anonymität der Stadt und plötzlich die Individualität der menschlichen Geste – all das hat zusammengewirkt.

16vor: Was ist in der heutigen Stadt anders und wie hat sich die Spraykunst verändert?

Naegeli: Heute merkt man immer mehr, dass die Städte ein Potpourri sind, eine Konglomerat von Werbung, eine Materialanhäufung ohnegleichen. Der Geist ist immer bombardiert mit Dingen, auf die er sich eigentlich gar nicht einlassen will.

16vor: Wo liegt der wesentliche Unterschied zwischen Ihren Sprayzeichungen und den heutigen Graffiti?

Naegeli: Die Graffitiszene von heute ist eine Industrie. Bei meinen Sprayzeichnungen ist keine Industrie dahinter. Es ist vor allem ein ganz großer Unterschied, weil meine Zeichnungen in den urgeschichtlichen Felsenzeichnungen wurzeln, während die jugendlichen Graffiti in der Werbung wurzeln: Groß, bunt und aufdringlich.

16vor: Können Sie den Unterschied auch auf die Motive und Plätze Ihrer Figuren der Graffiti beziehen?

Naegeli: Graffiti nehmen nie Rücksicht auf den Träger. Bei meinen Figuren spielt der Träger eine entscheidende Rolle. Die Figur gehört zum ganzen Kontext dieser bürgerlich-gesellschaftlichen Architektur mit all ihren Vorgaben und Verboten. Ich integriere und sondere nicht ab. Meine Entscheidung ist abhängig vom Träger, vom Gebäude, von der Wand. Wie ist sie beschaffen? Ist sie ganz leer? Ist sie geometrisch? Was hat sie für eine Farbe? Welche Materialität, welche Struktur hat sie? Es ist ein Dialog mit dem Träger, während die Jugendlichen nur ihre Sache und nicht den Träger zeigen wollen. Es findet keine Auseinandersetzung mit dem Träger mehr statt, es ist vielmehr wie die Benutzung einer Leinwand. Meine Arbeiten sind Zeichnungen. Die Arbeiten der Jugendlichen sind Gemälde, Wandmalereien. Sie decken den Untergrund zu. Dieses Zudecken mit vielen Farben lässt den Träger verschwinden. Bei mir kommt der Träger sogar noch mehr hervor. Der Beton wird erst durch die menschliche Geste sichtbar. Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen den jugendlichen Sprayern und meinen Arbeiten.

16vor: In einem Interview vom 7. September 2011 sagten Sie: „Ich sprühe nicht mehr. Es gibt zu viele Nachahmer. Meine Revolution ist jetzt subtiler.“ Was stehen sie heute dazu?

Naegeli: Ich will es so sagen: Ich stelle immer die Kulturfrage, die Kunstfrage. Wie die Gesellschaft sie beantwortet, ist ihre Sache. Sie kann sagen: „Das ist im Widerspruch des Kapitalismus“. Oder sie kann sagen: „Das ist Kunst!“ Ob ich heute noch eine Revolution ausübe, das müssen die Leute wissen.

Anja Piotrowicz

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