„Die linken Milieus sind nicht verschwunden“

ThaaAm 22. September wird ein neuer Bundestag gewählt. Schenkt man den Wahlsonntags-Apologeten und ihren Umfragen Glauben, dann deutet derzeit alles auf einen erneuten Wahlsieg von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hin. Im Gespräch mit 16vor sucht der Inhaber des Lehrstuhls für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Trier, Professor Winfried Thaa, nach möglichen Erklärungen, weshalb die linke Seite des Parteienspektrums bislang weder von der Bankenkrise noch von der Kapitalismuskritik profitieren konnte. „Der  Wähler kann eigentlich nicht erkennen, was eine rot-grüne Regierung grundsätzlich anders machen würde“, so Thaas Befund. Der Politikwissenschaftler hat derweil eine „Repolitisierung auf gesellschaftlicher Ebene“ ausgemacht, dies zeige sich in Trier unter anderem an den Protesten für den Erhalt des Theaters und gegen den Bau eines ECE-Einkaufscenters. 

16vor: Herr Professor Thaa, viele Kommentatoren kritisieren die Regierungsbilanz des Kabinetts Merkel und stellen der schwarz-gelben Regierung ein verheerendes Zeugnis aus. Gleichzeitig wird Kapitalismuskritik im Zuge der Finanzwirtschaftskrise wieder salonfähig. Und doch deuten die Umfragen zur Bundestagswahl im September auf einen deutlichen Wahlsieg Merkels hin. Wie ist das aus Ihrer Sicht zu erklären?

Winfried Thaa: Eine mögliche Antwort wäre, dass die Kapitalismuskritik, die nach der Bankenkrise 2008 wieder stärker in den Vordergrund gerückt ist, sehr theoretisch bleibt. Es ist ja schon bezeichnend, dass die Kapitalismusfrage beispielsweise im Feuilleton der FAZ und somit unter intellektuellen Eliten diskutiert wird. Eine praktische Dimension ist kaum ersichtlich, der  Wähler kann eigentlich nicht erkennen, was eine rot-grüne Regierung grundsätzlich anders machen würde.

16vor: Und was ist mit der Occupy-Bewegung?

Thaa: Die Occupy-Bewegung hat mehr einen symbolischen Charakter. Ich würde sie nicht als politische Bewegung im engeren Sinne bezeichnen.

16vor: Warum das?

Thaa: Occupy betrachtet sich selbst nicht als Bewegung mit spezifischen Forderungen, sondern möchte vor allem auf den Missstand hinweisen, dass die kleinen Kreise des Finanzkapitals die Macht haben, und nicht die „anderen“ 99 Prozent, die in einer Demokratie eigentlich bestimmten müssten. Ich würde behaupten, dass dieser Missstand einem Großteil der Bevölkerung bewusst ist, diese aber keine realisierbare Alternative sieht.

16vor: In einem pragmatischen Sinne wäre die Linkspartei doch die Alternative, da sie die einzige Partei im etablierten Parteienspektrum ist, die die Verteilungsfrage und die Bändigung des Finanzkapitals deutlich hervorhebt. Und doch dümpelt sie in Umfragen um die acht Prozent.

Thaa: Es ist in der Tat ein Rätsel, warum linke Parteien in europäischen Ländern bisher keinen Vorteil aus der Krisenlage ziehen konnten. Eine große Rolle spielt dabei, dass sie als Opposition zur herrschenden Politik lediglich eine stärkere Umverteilung anbieten und die Bevölkerung skeptisch ist, ob das ohne Weiteres funktionieren könnte. Bei der Linkspartei in Deutschland kommt hinzu, dass sie in Westdeutschland immer noch sehr stark mit der SED in Verbindung gebracht wird. In diesem Teil des Landes ist sie auch in einem desolaten Zustand, wenn man sich die Ortsverbände anschaut. Trier ist da ein extremes Beispiel, doch in vielen anderen Orten sieht es ganz ähnlich aus.

16vor: Dabei ließen sich doch im Zuge der Krise durchaus gemeinsame Berührungspunkte zwischen verschiedenen Bevölkerungsmilieus finden. Dem konservativen Bürgerlichen, der um seine private Altersvorsorge bangt, weil sie in griechische Staatsanleihen investiert wurde, müsste doch gleichermaßen an der Zähmung der Finanzmärkte gelegen sein, wie dem Empfänger von staatlichen Transferleistungen, der weitere finanzielle Einbußen infolge der Schuldenbremse zu befürchten hat?

Thaa: Dazu müsste es eine gemeinsame programmatische Perspektive geben. Das sehe ich nicht. Die Parteien können nicht greifbar machen, wie sie gegen die Dominanz der Kapitalmärkte vorgehen wollen. Und wenn man sich auf die Logik der Kapitalmärkte einlässt, muss man auch bereit sein, bestimmte Konsequenzen zu tragen. Das hat man an der Politik der SPD während der Großen Koalition und unter Rot-Grün beobachten können. Die haben sehr entschieden versucht, die Verhältnisse hier dem anzupassen, was man für die Erfordernisse der internationalen Finanzmärkte gehalten hat. Wenn man das zur Richtlinie der Politik macht – Merkel nennt das marktkonforme Demokratie – dann kann man im Wahlkampf gegen eine konservative Regierung keine überzeugende Alternative anbieten.

16vor: Darüber hinaus macht sich die Krise in der Bundesrepublik noch nicht bemerkbar – im Gegenteil, Deutschland profitiert von der Krise in Form günstiger Kredite und niedriger Zinsen. 

Thaa: Das gilt nicht für die breite Bevölkerung. Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt, dass die Einkommensentwicklung in Deutschland im europäischen Vergleich eher schlecht war. Es ist ein Niedriglohnsektor entstanden, die Realeinkommen stagnieren.

16vor: Viele glauben, dass es angesichts der Globalisierung und des internationalen Wettbewerbes keine Alternative zu diesen Entwicklungen gibt.

Thaa: Man muss sich zumindest die Frage stellen, ob man da einfach aussteigen und zu einem keynesianistischen Wohlfahrtskapitalismus zurückkehren kann.

16vor: Sie erkennen also auch keine richtigen Alternativen?

Thaa: Natürlich muss man sich den Tatsachen stellen, aber man sollte versuchen, in Europa auf eine Regulierung des Kapitals hinzuwirken. Das sehe ich aber nicht, die EU ist eine einzige Deregulierungs- und Vermarktlichungsinstanz. Und darauf bezogen sind die linken Kräfte sehr ambivalent und unentschlossen.

16vor: Inwieweit sehen Sie strukturelle Gründe für die Schwäche der SPD? Im Zuge der Deindustrialisierung galten die klassischen Arbeiter ja zunehmend als „Verlierer der Geschichte“. Möglicherweise erwächst aus einer möglichen Reindustrialisierung eine Chance für die SPD?

Thaa: Ein „Zurück zur klassischen Industriearbeiterschaft“ wird es nicht geben. Höchstens wird die Perspektive „Dienstleistungsgesellschaft“ – und die damit verbundene Ideologie – etwas von ihrem Glanz verlieren. Zur eigentlichen Frage: Das Paradoxe an der Situation der Bundesrepublik ist ja, dass es durchaus linke Mehrheiten gibt. Die linken Milieus in Deutschland sind nicht verschwunden, die haben sich nur verändert und differenziert. Dadurch ist ihre Integrationskraft nicht mehr so gegeben wie noch vor 30 Jahren. Das stellt die Parteien vor die Herausforderung, eigenständig eine gemeinsame Orientierung zu generieren. Dazu braucht es jedoch eine aktivere Rolle der Politik.

16vor: Hat der Erfolg der Proteste rund um Stuttgart 21 nicht gezeigt, dass es grundsätzlich einen Ausweg aus der Logik der Alternativlosigkeit geben kann?

Thaa: Stuttgart 21 zeigt zunächst einmal nur, dass es möglich ist, breite Bevölkerungsschichten gegen ein Infrastrukturprojekt zu mobilisieren. Das ist auch schon was. Es ist jedoch ein gewaltiger Sprung von einem einzelnen Konflikt hin zur Mobilisierung für eine alternative Wirtschaftsordnung.

16vor: Die Proteste in der Türkei oder auch in Russland im vergangenen Winter haben gezeigt, dass der Protestakt als solcher oftmals eine hinreichende Bedingung darstellt, um ein politisches Bewusstsein herzustellen.

Thaa: Da gebe ich Ihnen Recht. Ich würde sogar sagen, dass sich in dieser Hinsicht in den letzten Jahren auch in Deutschland einiges verändert hat. Die Bürger melden Partizipationsansprüche an, weil sie genug davon haben, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird. Es gibt eine Repolitisierung auf gesellschaftlicher Ebene. Das lässt einen ganz allgemein hoffen, dass das auch in Bezug auf Wirtschaftsfragen eine Rolle spielen könnte.

16vor: Gilt diese Beobachtung auch für die Kommunalpolitik?

Thaa: Auch hier sind die Bürger wieder aktiver geworden, es gibt ein starkes Interesse an politischen Problemen.  Das kann man in Trier gut an den Protesten zum Erhalt des Theaters oder den Ereignissen rund um den geplanten Bau des Einkaufszentrums sehen. Es zeichnet sich ja ab, dass nicht nur betroffene Einzelhändler, sondern ein großer Teil der Bevölkerung nicht recht einsieht, wozu das gut sein soll. Das stellt die simple wirtschaftliche Logik in Frage, nach der die Verwaltung sagt: Wir holen einen Großinvestor nach Trier und dafür erwarten wir Zustimmung oder gar Dankbarkeit. In einem abstrakten Sinne offenbart sich hier eine Parallele zu ‚Stuttgart 21‘, wo diese Art von Wachstumspolitik auf Widerstand stößt und die Bürger andere Kriterien in die Diskussion einbringen.

16vor: Wenn Sie möchten, können sie zum Abschluss unseres Gespräches noch eine Wunschprognose für die kommende Bundestagswahl abgeben.

Thaa: Was ich prognostiziere, ist nicht das, was ich mir wünsche (lacht). Ich hoffe, dass es gelingt, Merkel noch stärker politisch zu stellen. Aktuell klappt das ja im Rahmen des Abhörskandals, doch wünschenswert für den Wahlkampf wäre ein stärkerer Bezug zur grundsätzlichen Europa- und Wirtschaftspolitik. Das könnte dazu führen, dass die SPD einige Prozentpunkte zulegt, aber ich bin skeptisch, ob es für Rot-Grün reicht. Rechnerisch wäre eine rot-rot-grüne Koalition eher denkbar, politisch halte ich sie aufgrund des Widerstands in der SPD für sehr unwahrscheinlich.

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