„Der Baum hätte sofort gefällt werden müssen!“

Die Kastanie im Trierer Rautenstrauchpark, die im November vergangenen Jahres umstürzte, einen Menschen tötete und einen weiteren schwer verletzte, war so morsch, dass sie sofort hätte gefällt werden müssen. Dies hat ein Gutachter am zweiten Verhandlungstag im Prozess gegen einen Baumkontrolleur des Rathauses erklärt. Der Sachverständige wurde vom Amtsgericht ebenso gehört wie die Kollegen des Angeklagten aus dem Grünflächenamt. Allesamt berichteten sie von ihrer hohen Arbeitsbelastung. Amtsleiter Franz Kalck erklärte, er habe im März 2012 drei weitere Mitarbeiter für die Baumpflege angefordert, aber „ich habe keine Antwort bekommen“. Ob Kalck das Missverhältnis bekannt gewesen sei, „dass 70 bis 80 Prozent der Bäume unkontrolliert waren“, wollte der Richter von ihm wissen. Die Antwort des Amtsleiters: „In dem Umfang, nein.“

TRIER. „Der gesamte Baum war durchgängig innen hohl“, wobei die größere Stärke der Rinde im oberen Bereich gewesen sei. Was Martin Pfeiffer am zweiten Verhandlungstag vor dem Amtsgericht Trier aussagt, hat Gewicht. Der 53-Jährige hat im Auftrag der Staatsanwaltschaft eine mehr als 80-jährige, gut 15 Meter hohe Kastanie untersucht, die am 22. November 2012 im Trierer Rautenstrauchpark umgestürzt ist, eine 70-Jährige Frau getötet und einen 59-jährigen Mann so schwer verletzt hat, dass er sich heute noch mit Krücken fortbewegen muss. Angeklagt ist ein Sachbearbeiter des städtischen Grünflächenamts, der für die eingehende Baumkontrolle zuständig ist (wir berichteten).

„Ich war überrascht, wie weit der Baum am Stammfuß schon zersetzt war“, sagt Pfeiffer. „Der hatte keine Wurzeln und keine Stabilität mehr.“ Denn die fünf oder sechs Wurzelansätze seien abgerissen und „ganz zersetzt, verfault“ gewesen, das Holz pulverisiert: „Sägemehl – für die Zeitungen.“ An mehreren Stellen war der Baum von Goldfell-Schüpplingen befallen gewesen – das hat eine Untersuchung in einem Labor ergeben, die der Gärtnermeister aus Blaubach bei Kusel in Auftrag gab. Er habe drei große Stellen mit Fruchtkörpern dieses Pilzes gesehen, der zu einem schnellen Holzabbau führe, sagt der 53-Jährige.
Allerdings: „Der äußere Rindenbereich war durchgängig.“ Soll heißen, dass ein Baumkontrolleur den Schaden nicht sofort sehen kann. Denn der Baum ist weiterhin grün, weil die Versorgungsleitungen in der Rinde liegen. Hätte er sich jedoch die Fäulnisstelle am Baumfuß genauer angesehen, hineingefasst oder mit dem Sondierstab hineingestoßen, einem Instrument zur Lokalisierung von Fäulnis in Bäumen, hätte er festgestellt: „Hier ist alles weich.“ Einen Resistografen, ein Spezialgerät zur Bestimmung der Wandstärke des Stammes, der in der eingehenden Zweituntersuchung eingesetzt wird, hätte es dazu nicht gebraucht. Auf die Frage des Richters, ob dies schon im Vorjahr zu sehen gewesen sei, folgte ein „eingeschränktes Ja“ von Pfeiffer. „Die Höhlung ist nicht über Nacht entstanden.“

In der Krone sei augenfällig, dass die Starkäste ab zehn Zentimeter Durchmesser rundum gekappt worden seien, berichtet Pfeiffer weiter. Fünf bis sechs Jahre sei das her, schätzt er. „Fast alle Schnittstellen waren ausgehöhlt, zum Teil bis zu 70 oder 80 Zentimeter tief.“ Dies könne allerdings der Kontrolleur vom Boden aus nicht sehen. Hätte das nicht beim Rückschnitt auffallen müssen, fragt Otmar Schaffarczyk, Rechtanwalt der Nebenklage, die der 59-Jährige Verletzte führt. „Die Stadt muss das gesehen haben“, bestätigt der Sachverständige. Vermutlich sei die Krone eingekürzt worden, um sie leichter zu machen. Hinweise auf einen Schaden hätten auch die Wuchsanomalien gegeben. „Das ist ein Hinweis, dass etwas mit dem Baum nicht stimmt.“ Zumal auch eine Vitalität von 2,5 auf einer Skala von 1 bis 5 kein Mittelwert sei, sondern „erheblich beschädigt“ bedeute. Pfeiffers Fazit: „Man hätte vor einem Jahr einen Schlussstrich ziehen müssen. Man hat die fortgeschrittene Holzzersetzung nicht beachtet.“ Die Entscheidung nach einer Kontrolle des Baumes im Juli 2012, eine eingehende Kontrolle durchzuführen, sei nicht richtig gewesen: „Der Baum hätte sofort gefällt werden müssen.“

Die Kastanie sei deutlich über 80 Jahre alt, vielleicht 90 oder gar 100 Jahre, schätzt der Sachverständige. In dieser Alterungsphase wachse sie kaum noch in die Höhe und nur wenig in die Breite; in der Krone könnten Äste absterben. Daher sei es notwendig, alte Bäume verstärkt zu kontrollieren. Wie oft dies erfolgen solle, fragt Richter Strick. „Am besten allen Monat“, antwortet Pfeiffer. Man sollte mit Verstand rangehen. Beschädigte Bäume sollten halb- oder vierteljährlich kontrolliert werden, bei einem gesunden empfiehlt er einmal im Jahr. Diese Regeluntersuchung, eine reine Sichtkontrolle, geschehe vom Boden aus mit Hammer und Sondierstab. „Wenn ich etwas sehe, fordere ich eine Nachkontrolle an.“ Bei dieser Kastanie wäre ein halbjährlicher Rhythmus sinnvoll gewesen.

Und doch wurde der Trierer Baum nur einmal im Jahr kontrolliert, im Herbst 2012, zuvor im Oktober 2011. Am 20. September 2012 spätnachmittags habe er festgestellt, dass die Kastanie keine Blätter mehr habe, sagt der städtische Baumkontrolleur, der bis Anfang Juli mitangeklagt war. Da laut Strick die Möglichkeit bestehe, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihn wieder aufnehmen könne, darf er von seinem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch machen. „Ich will aussagen“, sagt der 60-Jährige, der mit zehn Prozent seiner Arbeitszeit für die Innenstadt und die Stadtteile östlich der Mosel zuständig war – inzwischen hat er sich von der Kontrolle freistellen lassen. Er habe die Untersuchung am 1. Oktober fortgesetzt und Ergänzungen eingetragen wie die Faulstelle im unteren Stammbereich. Eine Zweitkontrolle habe er nicht eingetragen, das habe seit 23. Juli im Baumkataster gestanden. „Wenn Sie sehen, dass dies am 1. Oktober noch nicht passiert ist, wenden Sie sich nicht wegen Dringlichkeit an den Angeklagten?“, fragt Anne Bosch, Anwältin der Nebenklage des Witwers der getöteten Triererin. Er sei nicht autorisiert, Prioritäten zu nennen, sagt der Kontrolleur.

Der, der den Baum und eine benachbarte Kastanie damals kontrollierte, ist der 45-jährige Vorarbeiter der Baumpflegekolonne. Diese bestehe neben ihm aus zwei Baumpflegern und zwei Arbeitern. An diesem Tag sollten eigentlich tote Äste aus den Linden am Parkhaus entfernt werden, informiert der Gärtner. „Beim Reinfahren ist mir die Kastanie aufgefallen, die lichte Belaubung und die gelben Blätter. Ich habe mir gedacht, da müssen wir was machen.“ Er habe die erdnahe Höhlung entdeckt, habe hineingefühlt und sei mit dem Sondierstab hineingefahren. Der mehlige Zustand des Holzes bezeichnet er bei diesem Schadensbild als „normal“. Er habe daraufhin eine Kontrolle mit dem Hubsteiger angeordnet, den Angeklagten angerufen und ihn gebeten, dazuzukommen. Gemeinsam hätten sie die Untersuchung beobachtet.

„Wir standen beide am Baum.“ Der Mitarbeiter, der auf dem Hubsteiger stand, hatte mit einer Stangensäge den „Wackeltest“ gemacht. Indem der Baum in Schwingungen versetzt werde, könne „ein Windereignis nachgestellt werden“, erklärt der 45-Jährige. Das Ergebnis: „Man konnte nichts sehen.“ Es habe keine Bewegungen im Stamm- oder Erdbereich gegeben. „Wir sind übereingekommen, dass wir den Baum eingehender untersuchen müssen bezüglich der Restwandstärke.“ Erst dann könne entschieden werden, ob der Baum gefällt werden müsse. Allerdings habe sein Chef den Resistografen nicht dabei gehabt, antwortet er auf die Frage des Richters, ob es Überlegungen gegeben habe, dies direkt zu kontrollieren. „Mir war auch nicht bewusst, dass der Baum von jetzt auf gleich versagen könnte.“

Während der Vorarbeiter mit dem Angeklagten vor Ort gesprochen haben will, hat dieser am ersten Verhandlungstag ausgesagt: „Ich war nicht vor Ort, daher kann nur er oder ich mich irren.“ Ob sein Chef im Park gewesen ist, „kann ich nicht mit Gewissheit sagen“, antwortet der 31-Jährige, der im Hubsteiger stand, auf die Frage des Richters. Der glaubt ihm nicht. „Sie wissen alles noch bis ins Detail, aber ob der Chef rauskommt, wissen sie nicht mehr? Das ist lebensfremd. Es ist nicht nachvollziehbar, dass sie mir eine 50/50-Prozent-Lösung anbieten. Dabei bleiben Sie?“ – Ein klares „Ja“. Der Angeklagte schaut nach unten.

Als Franz Kalck, der Leiter des Grünflächenamts, im Zeugenstand sitzt, sieht er wieder auf. Denn sein Chef berichtet zuerst von der personellen Lage im Amt. Ob es schwierig gewesen sei, mit dem knappen Personal die Arbeit zu leisten, will der Richter wissen. „Das ist mir zugetragen worden; es gab Gespräche“, sagt der 62-jährige Gartenbauingenieur. „Wir haben nach Lösungen gesucht.“ So habe er im März 2012 drei weitere Mitarbeiter für die Baumpflege angefordert. „Ich habe keine Antwort bekommen.“

Nach dem Unfall habe er versucht, seine Mitarbeiter vom Winterdienst zu befreien. Denn die dort geleisteten Überstunden müssten mit Freizeit abgegolten werden und stünden für ihre originäre Arbeit dann nicht zur Verfügung. „Das wurde abgelehnt.“ Seit Januar sei jedoch in Mitarbeiter eingestellt worden, der bislang knapp 5000 Bäume kontrolliert habe. Auf 32000 schätzt Kalck den Bestand der Stadt. Zudem seien zusätzliche Mittel eingeplant, für die Beauftragung von Drittfirmen, beispielsweise übernehme nun eine Firma 40 eingehende Kontrollen, mehrere Aufträge seien an Pflegefirmen gegangen. Da eine aus der Kontrolle ausgeschieden sei, sei die gesamte Baumkontrolle ausgeschrieben worden, zusammen mit der Erfassung der restlichen Bäume. Insgesamt seien in diesem Jahr wie auch für 2014 dafür 250.000 Euro bewilligt. Er habe festgestellt: „Der Unfall hat dafür gesorgt, dass diese Firmen viele Aufträge haben.“

Und dann geht es um die Zweitkontrollen. Warum es keine zeitlichen Vorgaben dafür gebe, will Richter Strick wissen. Denn die im Juli 2012 angeforderte Kontrolle war bis Ende November nicht erfolgt. „Weil es zusätzliche Kosten verursachen kann, wie mehr Personal- oder Fremdleistungen“, sagt Kalck. Er habe weder Personal-noch Finanzhoheit. Zudem gebe es anders wie bei der jährlichen Kontrolle keine Richtlinie. „Es gibt keine Prioritätenliste. Wer eine Zweitkontrolle anfordert, ist unsicher. Er kann abschließend keine Beurteilung abgeben.“ Er habe auch nicht überprüft, in welchem zeitlichen Rahmen der Angeklagte die Zweitprüfungen durchführe, sagt Kalck. „War Ihnen das Missverhältnis bekannt, dass 70 bis 80 Prozent der Bäume unkontrolliert waren“, fragt Strick. „In dem Umfang, nein.“ Jedoch kenne er den Angeklagten seit seiner Lehrzeit, sagt Kalck. „Ich schätze ihn als sehr verantwortungsvollen Mitarbeiter, auf den ich mich verlassen kann.“

Wenn es keine Richtlinie für eingehende Kontrollen gebe, müsse der Angeklagte das selbst entscheiden, meint Schaffarczyk. „Sie schieben ihm den Schwarzen Peter zu.“ Er frage sich, ob mit dem Sachbearbeiter der richtige auf der Anklagebank sitze.
Ob nach der fast achtstündigen Verhandlung, in der neben Mitarbeitern des Grünflächenamts auch Ersthelfer und der Leichenbeschauer aussagten, die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, wird sich am dritten Verhandlungstag am morgigen Donnerstag ab 14 Uhr zeigen. Vorgesehen waren lauf Strick die Plädoyers und seine Entscheidung. Gegebenenfalls gebe es Abweichungen, kündigt er an.

Mechthild Schneiders

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