„Wie eine Party in einem exklusiven Club“
Ein halbes Jahr lang denken sich zehn Trierer Studenten bei dem Projekt „Trier Model United Nations“ (TriMUN) in die Rolle ausländischer Diplomaten hinein. Dabei feilen sie an ihren rhetorischen Fähigkeiten und eignen sich die Spielregeln des internationalen Parketts an. Ende März werden sie die aufstrebende Atommacht Indien am Sitz der Vereinten Nationen in New York repräsentieren. Der UN kommt diese Form der kostenlosen Kadersozialisation sicherlich entgegen, trägt sie doch möglicherweise zur Zementierung eines internationalen Systems bei, welches noch die Machtverhältnisse der Nachkriegsordnung widerspiegelt. Wenn da nicht die kritische Denke der Teilnehmer und Tutoren wäre…
TRIER. Es sind oftmals die kleinen Beobachtungen, die den großen Begriffen Leben einhauchen. Der schillernde Ausdruck „Interdisziplinarität“ ist so einer. Hört man den Studenten zu, die ihre Freitagnachmittage opfern, um sich den Kopf über die Vereinten Nationen und die Rolle Indiens in der Welt zu zerbrechen, bekommt man eine Vorstellung davon, was damit gemeint sein könnte. Die Biologie-Studentin Veronika Batzdorfer muss die heutige Sitzung früher verlassen – Besprechung der Bachelorarbeit. Irgendjemand will das Thema wissen. Sogleich sprudeln komplizierte Fachbegriffe aus ihr heraus; es könnte auch eine Fremdsprache sein. Sie klärt auf: Ihr Thema kreise um den Winterschlaf (Aggregation) von Marienkäfern (Coccinellidae). Wieder etwas gelernt. Christian Kass, einer der Tutoren, blickt betont streng über seinen Brillenrand und erinnert daran: „The seminar-language is English!“ Die Sitzung beginnt.
Jede Woche treffen sich die Teilnehmer der nunmehr zehnten TriMUN zu einem vierstündigen Seminar, um sich auf die internationale Simulation der UN in New York vorzubereiten – mit etwa 5000 Teilnehmern aus aller Welt die größte ihrer Art. Bis dahin nehmen sie an drei kleineren Simulationen in Trier, Blankenheim und schließlich Berlin teil – alles willkommene Generalproben, um die strengen Prozeduren und komplizierten Verhandlungsabläufe in den zahlreichen Komitees der UN einzuüben. Schützenhilfe erhalten sie dabei von ehrenamtlich tätigen TriMUN-Teilnehmern der letzten Jahre, die sich um die Seminarleitung kümmern.
Der angehende Politikwissenschaftler Andreas Maldener erklärt, weshalb ein souveräner Umgang mit den Spielregeln der UN so wichtig sei: „Nur wenn man die Regeln gut kennt, kann man sie zu seinem eigenen Vorteil nutzen“ – möglicherweise gegenüber Delegationen, die mit Englisch als ihrer Muttersprache punkten können. Die sprachlichen Fähigkeiten spielen nämlich eine wichtige Rolle: „Es bedarf großer rhetorischer Leistungen, um ein Statement in eine Redezeit von nur einer Minute zu packen.“ Darüber hinaus beschäftige man sich intensiv mit der Politik und Weltsicht Indiens. Die Tagespolitik sei dabei auch von Bedeutung, erzählt Maldener – und veranschaulicht dies anhand eines Beispiels: Als indische Delegation sei man auch im Menschenrechtsrat der UN vertreten, und da das Land „in letzter Zeit negative Schlagzeilen gemacht hat“, müsse man nun damit rechnen, auch mit dem Thema „Frauenrechte“ konfrontiert zu werden.
Auf die Größe kommt es an
Er erklärt, wie die Wahl auf Indien fiel: „Wir konnten uns schnell darauf einigen, dass wir eine aufsteigende Macht repräsentieren wollen.“ Welche Universität welches Land zugeteilt bekommt, wird in den USA entschieden. Kritiker glauben, dass die US-Amerikanischen Universitäten dadurch die interessanten und großen Länder zugeschanzt bekämen. Für Andreas Maldener sind indes eher die pragmatischen Gründe ausschlaggebend: „Das Problem ist die Größe der Delegationen.“ Je größer ein Land, desto höher sei die Anzahl der Komitees und Ausschüsse, die mit eigenen Diplomaten besetzt werden müssten. Indien könne man nur deshalb vertreten, weil man mit einer Universität aus den USA eine gemeinsame Delegation stelle.
Größere Universitäten haben es da einfacher. „Die Münchener werden diesmal Afghanistan vertreten“, einen schwierig zu repräsentierenden Staat, mit dem man aber auch glänzen könne, so Maldener. Die Delegationen aus Bayern würden regelmäßig für ihre Leistungen prämiert. Er mutmaßt, woran das liegen könnte: „Im Gegensatz zu uns bekommen sie für ihre Arbeit Credit Points angerechnet.“ Es sei schade, dass man vonseiten der Universität nicht mehr Unterstützung erfahre. Doch Maldener glaubt auch, dass dies dem hohen Aufwand geschuldet ist: „Der Dozent müsste das gesamte Projekt begleiten und zu den Simulationen mitreisen.“
Auch aus finanzieller Sicht fühlen sich die Teilnehmer von ihrer Hochschule ein wenig allein gelassen. Es gibt zwar eine Reihe von hochschulnahen Organisationen, die das Projekt fördern, doch die Universität selbst zeigt sich nicht in Spendierlaune – trotz der repräsentativen Außenwirkung des Projekts. „Aufgrund der Sparzwänge der Universität kommt der Wunsch nach Förderung möglicherweise nicht zum optimalen Zeitpunkt“, so Kim Henningsen, die innerhalb der Gruppe für das Fundraising verantwortlich ist. Doch auch in den Jahren vor der Bekanntmachung ihres Moratoriums hat die Universität nicht zur Finanzierung beigetragen. Stets sprang das Studierendenparlament mit einem vierstelligen Betrag in die Bresche – um ein Elitenprojekt zu fördern, kritisieren die einen, um ärmeren Studierenden die Teilnahme überhaupt erst zu ermöglichen, sagen die anderen. Kim Henningsen und Andreas Maldener neigen zur letzteren Begründung.
„Wir reflektieren die Arbeit der UN durchaus kritisch“
Tutor Christian Kass hat vor zwei Jahren an der WorldMUN in Singapur teilgenommen und dort Angola und Barbados vertreten. In seinen Augen ist es wichtig, „während der Simulation den eigenen Hintergrund und die Kritik“ außen vor zu lassen. Nur so könne man sie realitätsnah durchführen. Vor diesem Hintergrund hat eine Delegation aus Syrien viel Lob geerntet: Glaubwürdig hat sie das Land Israel vertreten – und wurde prompt für ihre Leistungen ausgezeichnet.
Besonders interessant stellte sich die Persönlichkeitsspaltung auf Zeit im letzten Jahr dar, als die Trierer den „Schurkenstaat“ Iran auf internationalem Parkett vertraten. Die Jurastudentin Julia Martini gehörte der Delegation an. Es sei eine „große Herausforderung“ gewesen, ein Land zu vertreten, dessen Politik nicht mit den Werten der EU vereinbar sei. Sie habe sich sehr intensiv mit den Positionen Irans auseinandergesetzt. Ihr Eindruck zur Kritik an dem Land: „Vielleicht erfährt der Iran eine schärfere Behandlung als andere Länder“, erklärt sie nach einer kurzen Denkpause. „Möglicherweise“, wird sie später ergänzen, „rührt dies von der einseitigen Berichterstattung in den Medien her.“
Ist TriMUN also eine Bastion gegen den totalisierenden Reduktionismus dieser schnelllebigen Zeit? Ein kritischer Leuchtturm in einem Meer voller Unsinn? Dazu bedarf es auch einer Kritik an der UN und anderen Institutionen, die bestehende Ungerechtigkeiten reproduzieren. Auch Christian Kass hält manches für kritikwürdig und behauptet mit Blick auf das Seminar: „Wir reflektieren die Arbeit der UN durchaus kritisch.“
Vorher hatte man über den Internationalen Währungsfonds (IWF) gesprochen und erfahren, dass die Stimmrechte der Mitgliedstaaten sich am Anteil des eingezahlten Kapitals orientieren. Tutor Kass unterbrach und zeichnete folgendes Bild: „Ihr müsst euch das vorstellen wie eine Party in einem exklusiven Club. Die Reichen zahlen mehr, um eingelassen zu werden, die armen Studenten weniger, aber alle sind mit dabei.“ Kurze Stille. Interpretationen erfüllen die Köpfe: Der Kerngedanke der Solidarität, verwirklicht? Ausgerechnet hier? Mitnichten: „Was glaubt ihr, wer jetzt am meisten Spaß auf der Party haben wird?“, beendet Kass sein Gleichnis.
Immer wieder äußern einige Teilnehmer und Tutoren ihren Unmut über das idealisierte Selbstbild der Institutionen, das angesichts der Wirklichkeit wie Hohn klingt. Schließlich kommt die Referentin auf die Maßnahmen zu sprechen, die der IWF als Vorbedingung für den Verleih von Geldern durchsetzt. Christian Kass will wissen: „Lässt sich an Griechenland sehen, dass diese Politik wirkungsvoll ist?“ Es ist eine rhetorische Frage, und doch wird ihm geantwortet – mit hörbarem Schnaufen und demonstrativem Kopfschütteln.