Wallfahrst du noch oder pilgerst du schon?

Über die Bedeutung des Pilgerns, den Unterschied zwischen „pilgern“ und „wallfahren“ und die Konjugation von „wallfahren“ machte sich der Wallfahrtslaie Frank Meyer Gedanken und stellt diese im folgenden Beitrag vor. Ab heute präsentiert 16vor wöchentlich eine Kolumne des neuen Trierer Stadtschreibers. Auch in den kommenden Wochen stehen seine Meinungsbeiträge unter dem Motto „Zweifler trifft Pilger“. Meyer wird über interessante Begegnungen berichten, bei denen er die richtigen Fragen stellte.

Mir braucht keiner was zu erzählen! Pilgern fürs Seelenheil? Von wegen! Das war doch die einzige Möglichkeit, zuhause mal rauszukommen. Damals. Da konntest du nicht einfach sagen: „Ich bin dann mal weg“, oder: „Familie, ich fahr mit den Jungs mal ’ne Woche auf Malle“. Das Konzept „Mal-auf-Malle-fahren“ gab’s vor wenigen Generationen noch gar nicht. Überhaupt ist die Idee mit dem In-Urlaub-Fahren viel jünger als man denkt. Vor hundert Jahren hätten sie einen für verrückt erklärt, wenn man verkündet hätte, dass man mal für ’ne Woche einfach so zum Spaß wegfährt. Aber Pilgern… Pilgern war kein Spaß. Pilgern war ein guter Grund. Eine Reliquie besuchen war angeblich gesundheitsfördernd und auch sonst gesellschaftlich akzeptiert: „Wo ist denn der Meier Kurt schon wieder?“ – „Ei, der ist doch auf Wallfahrt.“ – „Ach so, ja dann …“

Wenn man also zu einem abgebrochenen Backenzahn der Heiligen Wasweißich, zum Steißbeinknochensplitter des Heiligen Soundso oder eben zum „Heiligen Rock“ nach Trier pilgerte, war gesellschaftlich gesehen alles im grünen Bereich. Auch schon im Mittelalter. Und auch noch zu Zeiten meiner Großeltern. Am besten pilgerte man alleine und irgendwohin, wo einen keiner kannte. Oder man wallfahrte mit Leuten, die dicht halten konnten. Denn so eine Reliquie ist ja schnell angeguckt. Und danach sieht man sich eben noch in der Stadt um, in die man gerade gepilgert ist.

Apropos pilgern: Gibt es eigentlich einen Unterschied zwischen dem Pilgern und der Wallfahrt? Und noch wichtiger: Wie heißt eigentlich das Verb von Wallfahrt? Bei „pilgern“ ist das leicht, aber heißt es nun „wallfahren“ oder „wallfahrten“? Und um’s komplett kompliziert zu machen: Wie lautet dann die Vergangenheit? Ich „wallfahrte“ oder ich „wallfuhr“. Man stelle sich das mal konkret an einem Beispiel vor: „Wo war denn der Meier Kurt letzte Woche schon wieder?“ – „Na, der fuhr doch wall!“ – „Ach so, ja dann…“

Ich habe einen Germanisten gefragt, und der meinte, früher einmal hätte das Verb einfach „wallen“ geheißen. Wie „früher“? Also mindestens bis ins 19. Jahrhundert. Da wallten die Wallfahrer manche Strecke. Außerdem zählt der Germanist nicht mit seiner Meinung, der ist selbst weder gepilgert noch gewallfahrt. Also was weiß der schon. Deshalb habe ich einen Pilger aus meinem Dorf gefragt, der schon die letzten beiden Male, also 1959 und 1996, dabei war, als der „Heilige Rock“ gezeigt wurde und jetzt, 2012, wieder hin will: „Na, Kurt, wallfahrst du noch oder pilgerst du schon?“ „Ich mache eine Wallfahrt, also bin ich ein Pilger“, antwortete Kurt mir. Ich hab jetzt schon mit ein paar überzeugten Anhängern der Heilig-Rock-Wallfahrt gesprochen und allmählich habe ich den Eindruck, diese Typen sind cooler als ich dachte. Zumindest lässt sich keiner von denen von ein paar provokanten Fragen aus der Ruhe bringen.

Die Wallfahrt light ist übrigens die Eintageswallfahrt. Meine Groß- und Urgroßeltern konnten nicht einfach nach Santiago de Compostela wandern. Da wären in der Zwischenzeit zuhause die Kleinen verhungert, oder noch schlimmer: hätten die ganze Bude auf den Kopf gestellt. Aber für einen Tag nach Trier, den „Heiligen Rock“ gucken, da konnte keiner was sagen.

Das Problem war nur: Wenn’s schon mal einen Sonderzug nach Trier gab, fuhr gleich das ganze Dorf mit. Das bedeutete nicht automatisch, dass der Spaß verdorben war. Immerhin handelte es sich bei meinen Großeltern ja um Saarländer, und die wissen, wie man sich amüsiert. Trier bietet da ja durchaus Möglichkeiten. Jedenfalls habe ich Kurt aus meinem Heimatdorf als Zeitzeugen ausgequetscht, vor allem darüber, wie die Eintageswallfahrt damals, 1959, eigentlich ablief.

Ich hab Kurt beim Waldfest am Bierstand getroffen und er war gerade so glücklich, weil er erstens ein frisch Gezapftes zu seiner Bratwurst mit Senf trank und zweitens stolz darauf war, als „Zeitzeuge“ betituliert zu werden, dass ich aus erster Hand erfuhr, weshalb die Heilig-Rock-Tour ’59 in die Annalen der Dorfgeschichte einging: Der Dorfpastor, der die Wallfahrt organisierte, schritt munter vorneweg vom Bahnhof zum Gottesdienst im Palastgarten, um sich dann von dort schnurstracks – seinen Schäfchen „Mir nach!“-rufend – in die ewig lange Schlange vorm „Heiligen Rock“ einzureihen.

Als er sich dort ermunternd umblickte, beschlich ihn der Eindruck, seine Schar könnte irgendwie des ein oder anderen Wallfahrers verlustig gegangen sein, und als sich der Dorfpastor – endlich beim „Heiligen Rock“ angekommen – freudestrahlend zu seiner Gemeinde umblickte, konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, morgens habe er doch eine weitaus größere Schar als dieses treue Häuflein in den Sonderzug einsteigen sehen.

„Und mit diesem Eindruck lag unser Pastor verdammt richtig“, gestand mein Informant, „aber am Ende des Tages hatten sich Freundschaften fürs Leben gefestigt, Trier war um etliche Weinflaschen, die durch saarländische Kehlen geflossen waren, ärmer, und generationenalte Streitigkeiten wurden endgültig beigelegt.“ Sogar zarte Liebesbande seien geknüpft worden – einige der Pärchen, die damals mit erröteten Wangen in letzter Sekunde zur Rückfahrt in den Zug sprangen, konnten als altes Ehepaar bei der 96er Wallfahrt den Enkelkindern zeigen, „wo alles begann“ – und von unserer Pfarrkapelle wurden Heldentaten berichtet, von denen noch an anderer Stelle die Rede sein wird.

Jedenfalls beschlich sich bei mir nach diesem ersten Zeitzeugengespräch mit einem Heilig-Rock-Wallfahrer erstmals der Gedanke, es könnte vielleicht doch was dran sein, mit dem Pilgern und dem Seelenheil. Zumindest hat bei früheren Wallfahrten das „Und führe zusammen, was getrennt ist“ prima funktioniert – sogar bei denen, die gar nicht bis zum „Heiligen Rock“ durchkamen.

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