„…und bin auch ich zum Tode verurteilt“
Rund 20.000 Menschen besuchten die Ausstellung „Der Überlebenskampf jüdischer Deportierter aus Luxemburg und der Trierer Region im Getto Litzmannstadt. Briefe – Fotos – Dokumente“, die im Herbst 2011 in der Konstantin-Basilika zu besichtigen war. Anschließend äußerten viele den Wunsch, sich intensiver mit den individuellen Schicksalen der Opfer auseinanderzusetzen. Die Kuratorin der Ausstellung, Dr. Pascale Eberhard, hat nun ein Buch vorgelegt, das sich dieses Anliegens annimmt. Es bettet die Biographien der Juden in den größeren Kontext der antisemitischen Politik des NS-Regimes – ohne dabei das Herzstück der Ausstellung aus dem Blick zu nehmen: Die Briefe der Gettobewohner an die Aussiedlungskommission. Oftmals sind diese Dokumente die letzten Lebenszeichen dieser Menschen, an die auch der heutige internationale Holocaust-Gedenktag erinnert.
TRIER. Wer einmal durch die Straßen der polnischen Stadt ?ód? (deutsch: Lodsch) flaniert ist, wird zweifellos die eindrucksvollen Lagerhallen und Manufakturkomplexe im Gedächtnis behalten, die von der stolzen Vergangenheit der Stadt als Hochburg der Textilindustrie, als „Manchester Polens“, künden. Eingefleischte Cineasten hingegen dürften mit der Stadt eher Namen wie Andrzej Wajda, Krzysztof Kie?lowski, und – natürlich – Roman Polanski verknüpfen , die allesamt auf der stilprägenden Filmhochschule der Stadt ihr Handwerk erlernten. Der Begriff Litzmannstadt hingegen dürfte weniger bekannt sein.
Karl Litzmann, ein preußischer Infanteriegeneral und NSDAP-Eiferer der ersten Stunde, diente den nationalsozialistischen Besatzern als Namensgeber, als sie die zweitgrößte Stadt Polens im April 1940 in „Litzmannstadt“ umbenannten. Auf Anweisung des Regierungspräsidenten Friedrich Uebelhoer hatte man zwei Monate zuvor, im Februar 1940, mit der Errichtung des jüdischen Gettos begonnen. Im November 1941 fristeten bereits mehr als 160.000 Juden auf engstem Raum unter grauenhaften Bedingungen ihr Leben. Das Getto existierte bis Sommer 1944 – länger als jedes andere. Am 16. Oktober 1941 wurden 518 Juden aus Luxemburg-Stadt und dem Regierungsbezirk Trier in Richtung Litzmannstadt deportiert. Nur fünfzehn Menschen überlebten den „Krepierwinkel“ Litzmannstadt, alle anderen wurde in den Vernichtungslagern der Nazis ermordet.
„Ich will mit Individuen zu tun haben und nicht mit Massen“
Pascale Eberhard ist die Frau, die den abstrakten Zahlen ein Gesicht und eine Biographie wiedergegeben hat. Vor zwei Jahren organisierte die gebürtige Französin die Ausstellung in der Konstantin-Basilika, nun hat sie nach mehr als dreijähriger Forschungsarbeit ein Buch vorgelegt, das die Thematik der Ausstellung vertiefend behandelt. Der Schlüsselsatz zum Verständnis ihrer Arbeit fällt in der Einleitung des großformatigen Bandes: „Bei der Erinnerungsarbeit müssen unbedingt die individuellen Schicksale im Zentrum stehen.“ Darin wird ihre starke Abneigung gegenüber jeglicher Art von Verallgemeinerung deutlich. Eberhard erklärt: „Wenn man die Opfer als Masse betrachtet, dann raubt man ihnen die Identität. Ich will aber mit Individuen zu tun haben.“
Ihre eigene Biographie ist dabei Ausgangspunkt dieser Überzeugung: Der Vater kämpfte im französischen Widerstand. Er wurde an die Gestapo ausgeliefert und landete schließlich im KZ Dachau. Er überlebte das Lager. Trotz dieser Erfahrungen habe er keinen Groll gegenüber „den Deutschen“ gehegt, erzählt Eberhard freimütig: „Mein Vater konnte gut differenzieren, er hat sich gegen die Nazis, nie jedoch gegen die Deutschen geäußert.“ Sie sei dankbar dafür, diese Differenziertheit geerbt zu haben.
Ihre Haltung spiegelt sich im Ausstellungs- und Buchkonzept wider. Das erste Kapitel folgt noch traditionellen Schreibmustern und beleuchtet beispielsweise die strategische Rolle des Gettos Litzmannstadt für den Massenmord an den europäischen Juden. Man erfährt, dass es der Reichsstatthalter Arthur Greiser war, der erstmalige Erwägungen zur industriellen Vernichtung der Juden im Reichsgau Wartheland anstellte. Der Slawist Dr. Ingo Loose, der das Kapitel schrieb, kommt auch auf die sozialen und kulturellen Differenzen zwischen den polnischen Juden und den später dazukommenden Juden aus Westeuropa zu sprechen. Oskar Singer, ein Chronist des Gettolebens, notiert dazu pointiert: „Der Herr Rechtsanwalt aus Frankfurt oder der Herr Bankdirektor aus Berlin konnte nicht recht aus Überzeugung sich vor den schweren Gemüsekarren spannen.“ Für zusätzliche Spannungen sorgt die Tatsache, dass die Juden aus Westeuropa bis Anfang Mai 1942 von den Deportationen ausgenommen bleiben. Dann, so schreibt Eberhard, fällt die Entscheidung, „sämtliche Juden im NS-Herrschaftsbereich zu töten.“
Anschließend beleuchtet Eberhard das Schicksal der Juden in Luxemburg und der Trierer Region nach der Machtübernahme der Nazis. Dabei beschreibt sie ausführlich die diskriminierenden Maßnahmen der Nationalsozialisten, stets darauf bedacht, das Leid und die Schrecken der jüdischen Bevölkerung durch Zeitzeugenberichte und Dokumente erfahrbar zu machen. Ein besonders bedrückendes Zeugnis liefert Heinz Joseph über die Reichspogromnacht als den vorläufigen Kulminationspunkt des Naziterrors. Auf der Rückseite eines Kinoplakats notiert der damals 13-Jährige: „Dies ist ein kleines Beispiel der Brutalität dieser Machthaber die denen des Mittelalters in Grausamkeit weit überlegen sind.“ Heinz Joseph wird später ebenfalls nach Litzmannstadt deportiert. Er überlebt den Krieg. In den USA traf sich Eberhard mit seiner Witwe – ein bewegendes Erlebnis: „Ich durfte den Karton mit seinen Überbleibseln durchsuchen und fand dort in einer alten Brieftasche das beschriebene Kinoplakat.“
„Unser einziger Weg ist Arbeit“
Das Herzstück der Ausstellung – und des vorliegenden Bandes – bilden die Briefe der Gettoinsassen an die „Aussiedlungskommission“. Diese Abteilung der Pseudoselbstverwaltung der jüdischen Gettobevölkerung hatte auf Weisung der Nazis über das weitere Schicksal von mehr als 10.000 Juden aus Westeuropa zu entscheiden. Der euphemistische Begriff „Aussiedlung“ bedeutete nichts anderes als die Deportation in das Vernichtungslager Che?mno (deutsch Kulmhof) – und damit in den sicheren Tod. Mindestens 152.000 Menschen wurden in dem Lager ermordet.
Ein Forscher machte Eberhard auf die Existenz von 72 Briefen von Luxemburgern und Trierern aufmerksam, die im Staatsarchiv von Lodsch lagerten. In diesen Briefen bitten die Juden um die Zurückstellung vom Transport. „Die Briefe sind sehr formell, weil sie ja an eine Verwaltung gerichtet sind, dennoch zeugen sie von vielen Leiden – aber auch von Hoffnungen, die die Menschen damit verbunden haben“, erklärt Eberhard. Aus heutiger Sicht offenbaren die oftmals wortkargen Dokumente eine besondere Tragik: Vor der ersten großen Deportationswelle im Mai 1942 kursieren lediglich Gerüchte über den Zielort, scheinbar rationale Erwägungen bestimmen das Handeln der Menschen. So schreibt Eberhard: „Manche Empfänger des Ausreisebefehls sind der Auffassung, das Leben außerhalb des Gettos könne nicht schlimmer sein als das, was sie seit nun sechs Monaten erleiden. Auch die vor der Abreise verteilte Suppe mit einem Laib Brot ist für hungernde Menschen ein Grund, sich freiwillig zu melden.“ Schon bald jedoch wird aus den Gerüchten schreckliche Gewissheit: „Berge von Kleidung kamen ins Getto zurück, und irgendjemand hatte sogar die Kleidung eines Freundes oder Bekannten wiedererkannt“, erzählt Eberhard.
Bis dahin hoffte man, das eigene Leben durch harte Arbeit retten zu können. „Unser einziger Weg ist Arbeit“, lautete die Parole des sogenannten „Judenältesten“ Chaim Rumkowski. Diese Hoffnung findet ihren Ausdruck auch in den Argumentationsmustern, die den Briefen an die Aussiedlungskommission häufig zugrunde liegen. So schreibt der 59-jährige Josef Wagmann: „Sie werden einsehen, dass wir nicht arbeitsscheu sind, sondern nutzbringende Glieder in der Reihe der arbeitenden Bevölkerung.“ Obwohl die Mehrheit seiner fünfköpfigen Familie in Lohn und Brot steht, wird sein Gesuch abgelehnt.
Gleichzeitig lässt diese Strategie keinen Raum für Mitleid gegenüber den Alten und Schwachen. So wird der Antrag von Josephine Müller ebenfalls abgelehnt, obwohl sie deutlich ausspricht, was ihrem schwerkranken Mann bei einer erzwungenen Ausreise bevorsteht: „Widrigenfalls ist mein Mann, und bin auch ich zum Tode verurteilt.“
Kurze Biographien erzählen davon, was die Gettobewohner bis dahin alles durchleben mussten. Die ergreifenden Einzelschicksale spiegeln sich auch in der Gestaltung des gut einhundert Seiten starken Bandes wieder: Eine Vielzahl von Fotos zeigt Nahaufnahmen derjenigen, die sich hilfesuchend an die Aussiedlungskommission gewandt hatten. Dazwischen weiße Flecken – für die, von denen keine Bilder mehr erhalten sind.
Was folgt nun auf die drei langen Forschungsjahre? Pascale Eberhard will sich auch weiterhin mit dem Thema befassen. Sie plant, die Ausstellung so bald wie möglich nach Lodsch zu bringen. Anschließend, so hofft sie, wird die Ausstellung, die bereits in Mainz und Bitburg zu sehen war, durch Deutschland wandern. Den regionalen Bezug sieht sie nicht als Hindernis: „Es sind die gleichen Phänomene. Wenn man abstrahieren kann, sollte man die Beziehung zur Allgemeinheit sehen können.“
Dr. Pascale Eberhard ist Vorsitzende des Fördervereins „Gedenken und Gestalten. Gedenkarbeit und Leben ohne Diskriminierung in der Großregion SaarLorLux-Rheinland-Pfalz und Wallonien e.V.“ Das Buch „Der Überlebenskampf jüdischer Deportierter aus Luxemburg und der Trierer Region im Getto Litzmannstadt“ ist im Blattlausverlag erschienen.