Lieber spät als nie

Es gibt zahlreiche regionale Initiativen zur Alphabetisierung. Aber nicht alle werden mit dem Weiterbildungspreis des Landes Rheinland-Pfalz gewürdigt – oder gar mit einer halben Million Euro vom Bund bezuschusst. Kaum ein Jahr alt, kann sich das Trierer Bündnis für Alphabetisierung und Grundbildung bereits mit beiden Auszeichnungen rühmen. Kürzlich haben die Bündnispartner ein neues Projekt ins Leben gerufen, das sich der Rechtschreib- und Leseschwächen berufstätiger Menschen annehmen soll – frei nach dem Motto: lieber spät als nie. Knapp 60 Prozent aller Analphabeten gehen einem Beruf nach, viele sind im Niedriglohnsektor tätig und haben raffinierte Methoden entwickelt, wie sie nicht auffliegen. Deshalb sollen nun auch die Betriebe mit eingebunden werden.

TRIER. Seit der Föderalismusreform im Jahr 2006 steht das Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen im Bildungsbereich unter Generalverdacht. Gerne wird eine Zusammenarbeit schon im Vorfeld unter dem Deckmantel des „Kooperationsverbotes“ kritisiert. Das jüngst gestartete Trierer Projekt mit dem etwas sperrigen Titel „Arbeitsplatzorientierte Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener“ (APAG Trier) beweist jedoch, welche Vorteile aus einer Kooperation erwachsen können – insbesondere für die Betroffenen.

Und die sind zahlreicher als angenommen. Bisher ging man von etwa vier Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland aus. Ein funktionaler Analphabet ist zwar in der Lage, einzelne Buchstaben, Wörter oder auch Sätze zu lesen und zu schreiben, doch häufig bleibt ihm der Inhalt eines Textes verschlossen. Der praktische Nutzen der geschriebenen Sprache im Alltag ist damit eingeschränkt, die Teilhabe an der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft erst recht. Wissenschaftler der Universität Hamburg legten 2011 eine Studie vor, der zufolge die Zahl der funktionalen Analphabeten auf etwa 7,5 Millionen deutlich nach oben korrigiert werden müsse. Alleine in Trier geht man von rund 10.000 Betroffenen aus. Laut Kornelia Haugg vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) hat diese erste umfassende Studie zu dem Thema „die Augen geöffnet“. So verwundert es nicht, dass der Bund satte 500.000 Euro für das Trierer Projekt bereitgestellt hat. Angesichts der desolaten Finanzlage der Stadt zeigt sich Oberbürgermeister Klaus Jensen (SPD) sehr erfreut über den Geldsegen – und hebt hervor, dass die Organisationsstruktur, in der das Projekt eingebettet ist, „ohne die Förderung des Bundes nicht möglich gewesen wäre.“

Auch die im September gestartete bundesweite Informationsoffensive des BMBF kommt dem Vorhaben in Trier zugute: Unter dem Motto „Lesen & Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt“ setzen sich Bund und Länder gemeinsam mit lokalen Partnern für einen Anstieg des Alphabetisierungsgrades in Deutschland ein – und lancieren das Thema nach allen Regeln der Werbekunst auf die Agenda. Plakate werden aufgehängt, Broschüren verteilt, Radioanzeigen geschaltet. Mit hörbarem Stolz erzählt Thomas Bartelt, Referent im BMBF, von den Spots, die in Form von eindringlichen Erfolgsgeschichten ehemaliger Analphabeten über Leinwände und Bildschirme in ganz Deutschland flimmern: „Wer dieser Tage James Bond – Skyfall im Kino gesehen hat, der ist auf die Kampagne aufmerksam geworden.“

Der Erfolg der PR-Maßnahmen gibt den Initiatoren recht. Kornelia Haugg verdeutlicht ihn an der Frequentierung des Alfa-Telefons, einer anonymen Beratungs- und Informationsstelle zum Thema Analphabetismus: „Vor der Kampagne haben dort täglich sechs Leute angerufen, jetzt sind es bis zu 60 an einem Tag.“ Von der Resonanz profitiert auch das Trierer Bündnis für Alphabetisierung und Grundbildung, denn die medienwirksame Aktion sensibilisiert Betroffene und deren Umfeld für das Thema und spricht darüber hinaus auch potentielle Kooperationspartner an.

Sprache geht durch den Magen

Doch was ist so besonders am Trierer Ansatz? Wieso loben Bund und Länder das „innovative Weiterbildungskonzept“? Die Koordinatorin des Bündnisses, Nina Krämer, erklärt: „Es werden bereits viele Kurse für Analphabeten angeboten, doch wir versuchen es zunächst über das Umfeld und den sozialen Raum.“ Da viel Überwindung nötig ist, um sich als Betroffener zu einem Kurs an der Volkshochschule (VHS) anzumelden, spielen die Trierer gewissermaßen über Bande – in Form von sogenannten niedrigschwelligen Lernangeboten: Im Bürgerhaus Trier-West beispielsweise erleichtert ein Kochkurs die Auseinandersetzung mit dem weitgehend tabuisierten Thema Analphabetismus; quasi nebenbei lernen die Teilnehmer lesen und schreiben – gekocht wird nach Rezept, am Ende des Kurses winkt ein gemeinsam geschriebenes Kochbuch.

Der dezentrale Ansatz zeigt Wirkung. Seit dem letzten Jahr sind die Teilnehmerzahlen bei den Alphabetisierungskursen der VHS Trier um 50 Prozent nach oben geklettert. Die VHS bildet also nach wie vor den Schwerpunkt beim Kampf gegen Analphabetismus, doch vorher müssen die Betroffenen in ihrem Umfeld abgeholt werden. Dabei kommt den Schlüsselpersonen – Verwandten, Freunden und Arbeitskollegen – eine zentrale Rolle zu. Oft ahnen sie etwas von den Unzulänglichkeiten der Betroffenen, doch wissen nicht genau, wie sie das Thema zur Sprache bringen sollen.

Vor diesem Hintergrund fordert Ulrike Z. einen offensiveren Umgang mit der Problematik. Die resolute Saarländerin hat das Lesen und Schreiben erst im Alter von 30 Jahren gelernt – mühevoll hat sie das Buchstabengewirr in den Sprechblasen von Micky Maus-Heften mithilfe des dargestellten Kontextes entziffert, anschließend besuchte sie einen Kurs an der VHS Saarbrücken. Aus eigener Erfahrung weiß sie: „Ich wäre froh, hätte mich schon früher jemand darauf angesprochen.“

„Ganz altruistisch macht das niemand“

Bislang sind knapp 80 kommunale, zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Partner mit an Bord. Da man jetzt ein großes Bündnis sei, „ist es logisch, in die Arbeitsplatzförderung zu gehen“, beschreibt Nina Krämer die Beweggründe für den Brückenschlag zu den Betrieben. Aus Studien wisse man, „in welchen Branchen sich die Betroffenen traditionell bewegen.“ Es überrascht wenig, dass diese vorwiegend im Niedriglohnsektor anzutreffen sind. Doch selbst dort wird es für die Analphabeten immer schwerer, ihre Defizite zu vertuschen. Der Kreishandwerksmeisters Herbert Tschickardt weiß warum: „Die Gesellschaft wird zunehmend moderner, selbst auf der Baustelle wird mit Computern gearbeitet.“ Gleichzeitig entwickeln die Betroffenen immer raffiniertere Methoden, um nicht aufzufliegen – ein häufig vernachlässigter Aspekt, der das Vorurteil des „dummen Analphabeten“ Lügen straft.

Doch zunächst muss man die Unternehmen davon überzeugen, dass sie von dem Bildungsangebot profitieren – schließlich sollen zukünftige Lernpaten und Vertrauenspersonen nach Möglichkeit in den Betrieben selbst geschult werden. Darüber ist sich auch Krämer im Klaren: „Ganz altruistisch macht das niemand. Der Betrieb profitiert davon, weil er seine Humanressourcen verbessert und die Fluktuation der Mitarbeiter veringert.“ Daran sind nicht zuletzt auch die Betroffenen interessiert. Insgesamt habe sie den Eindruck, dass die Betriebe den Angestellten tatsächlich helfen wollten. Dabei könnte auch der Fachkräftemangel eine Rolle spielen. Laut OB Jensen gibt es derzeit bis zu 3.000 unbesetzte Lehrstellen in der Region.

Ellen Abraham kennt den Widerstand mancher Betriebe. In Hamburg hat sie ein ähnliches Projekt geleitet. Auch sie hat die Unternehmen zunächst von den Vorteilen überzeugen müssen. Eine Logistikfirma beispielsweise habe sich angesichts der geplanten Weiterbildung ihrer Fahrer eingangs skeptisch gezeigt. Abraham konnte sie mit folgendem Szenario überzeugen: „Wenn ein Analphabet heute erfährt, dass er morgen eine neue Route fahren soll, dann ist der morgen krank.“ Die ständige Angst zehre an den Kräften der Angestellten, deren Leistungsvermögen dann nicht mehr im vollen Maße für den Betrieb zur Verfügung stünden. Gleichzeitig macht Abraham deutlich: „Es gibt auch Unternehmen, die nicht nur das Maximum herausziehen wollen.“ Sie rät, die Betriebe nicht zu belehren und die Betroffenen mit einzubeziehen.

Bei dem Thema „Lernpaten“ äußert sich die Pädagogin zurückhaltend: „Nicht jeder eignet sich dazu.“ Es sei notwendig, die Leute auf ihre pädagogische Vorbildung hin zu untersuchen und für eine angemessene Fortbildung zu sorgen. Nina Krämer weiß eine Reihe von geplanten Maßnahmen aufzuzählen: Man werde modulare Schulungsbausteine anbieten und Hilfestellung leisten. Eine Anlaufstelle in der Bibliothek der VHS solle gewährleisten, dass die Lernpaten nicht alleine gelassen werden. Eine ganz eigene pädagogische Meinung dazu hat indes Tschickhardt, als Handwerker unzweifelhaft ein Mann der Tat: „Der beste Lernpate ist jemand wie Ulrike Z.“

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