Lessings listige Frauenzimmer
Behutsam ging Intendant Gerhard Weber bei der Neuinszenierung von „Minna von Barnhelm oder Das Soldatenglück“ vor, die am vergangenen Samstag im Großen Haus des Trierer Theaters Premiere feierte. Die zurückhaltende Modernisierung des Lessingschen Lustspieles wartet mit großartigen schauspielerischen Leistungen und viel Witz auf, der seine Kraft aus den unfreiwillig komischen Ehrvorstellungen und überkommenen Umgangsformen der reputationssüchtigen Gesellschaft bezieht und sich bisweilen bedrohlich nah ins Tragische neigt. Leider wird das große Potenzial des Werkes für eine gegenwärtige Gesellschaftskritik nicht gänzlich ausgeschöpft.
TRIER. Noch vor dem – von der Regie hinzugefügten und in der Gegenwart angesiedelten – Prolog scheint der thematische Schwerpunkt abgesteckt: Ein Gemälde hängt über der Bühne, so riesig, dass es sich nahezu über die gesamte Breite des Schauplatzes erstreckt. Es zeigt eine gewaltige Schlacht: endlose Reihen waffenstarrender Menschenleiber prallen aufeinander. Ein deutlicher Hinweis auf den historischen Kontext des Stückes, welches kurz nach Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) spielt. Dieser Krieg wurde nicht nur auf europäischem Boden ausgefochten und wird deshalb von einigen Historikern nicht zu Unrecht als erster Weltkrieg bezeichnet. Vor allem markierte er eine beunruhigende Zäsur in der Kriegstreiberei, die einen immer höheren Blutzoll forderte und auch vor zivilen Menschenleben nicht haltmachte.
Vor diesem in jeder Hinsicht erdrückenden Hintergrund sitzt nun der Protagonist des Stückes, Major von Tellheim (Michael Ophelders), den teilnahmslosen Blick in sich gekehrt; ein gebrochener Mann und invalider Kriegsveteran, der mit jeder Faser seines Daseins unsere Vorstellung dessen verkörpert, was Psychologen „Posttraumatische Belastungsstörung“ nennen. Aus dem Off ertönt die Stimme eines deutschen Soldaten, der von einem Afghanistaneinsatz zurückgekehrt ist: „Wer im Einsatz war, egal wo, und nach Hause zurückkommt und sagt: alles ist wie vorher, es hat sich nichts verändert – der lügt. Das gibt es nicht.“
Da stürmt die Minna von Barnhelm (Barbara Ullmann) ins Zimmer, ein Prachtweib mit wogenden Hüften, deren Lebenslust in krassem Gegensatz zur Depression Tellheims steht und daher unweigerlich in einem verkrampften Umgang miteinander mündet. Der Aufritt ihres in unschuldigem Weiß daherstolzierenden Vaters (Manfred-Paul Hänig) und seine bemühte Konversation mit dem Schwiegersohn lassen die Kluft nur noch größer erscheinen zwischen dem Kriegsheimkehrer und einer Gesellschaft, die ihre verblassende Erfahrung mit Krieg und Elend lieber nicht aufgefrischt sehen möchte.
Leider bleibt es im Wesentlichen bei dieser vagen Andeutung, die durch die Verengung auf individuelle Schicksalsschläge der hochaktuellen Diskussion um deutsches Unbehagen im Umgang mit seinen Kriegsheimkehrern zwangsläufig hinterherhinken muss. In dem Augenblick nämlich, in dem die Rolle des Nationalstaates als maßgeblicher Kraft jeglicher Kriegstreiberei ausgeblendet bleibt, wird die Zuweisung von Verantwortlichkeiten erschwert und ermöglicht dem zum Nachkriegszeitpunkt gewissermaßen reindividualisierten Soldaten den rettenden Sprung in die Opferrolle.
Was schon in der unmittelbaren Zeit nach 1945, also nach Wehrmacht und Waffen-SS, Ostfeldzug und Holocaust gelang, fällt heute umso leichter. Dabei müsste die naheliegende Antwort auf soldatische Befindlichkeiten gerade heute, da Deutschland die Professionalisierung seiner freiwilligen Berufsarmee vorantreibt, ebenso mitleidslos wie simpel ausfallen: Niemand hat dich gezwungen, in den Krieg zu ziehen. In diesem Sinne ließe sich die Empörung, die auf abfällige Bemerkungen über die Bundeswehr folgt – und die in dem Stück vonseiten des Wirtes getätigt werden („Bei Tellheim handelt es sich nur um einen abgedankten Offizier“) – als überzogene Erwartungshaltung einer Kriegerkaste deuten, die einerseits als normale Berufsgruppe angesehen werden möchte, auf der anderen Seite auf besondere Wertschätzung ob ihrer „Leistung“ auf dem Schlachtfeld nicht verzichten möchte.
Von Tellheim selbst gehen erwartungsgemäß keine kritischen Reflexionen aus; obschon ihn sein preußischer Staat fälschlicherweise der Korruption bezichtigt, hält er ihm die Treue. Das geht so weit, dass er seinen alten Wachtmeister und Freund Paul Werner (Tim Olrik Stöneberg) kritisiert, als er von dessen Plänen erfährt, sich in einem anderen Krieg zu verdingen: „Man muss Soldat sein für sein Land oder aus Liebe zu der Sache, für die gefochten wird. Ohne Absicht heute hier, morgen da dienen, heißt, wie ein Fleischerknecht reisen, weiter nichts.“ Da hilft es auch nicht und wirkt eher wie ein zynischer Gag, dass sich eine der wenigen geänderten Textpassagen auf einen aktuellen Konflikt beziehen. In dem Moment, in dem Tellheim seine Kriegslust wiederfindet, schmettert ihm Werner euphorisch entgegen, das er „da einen trefflichen Krieg in Syrien“ kenne.
Das anerkannte Hauptthema des Stückes bildet jedoch die spannungsreiche Auseinandersetzung zwischen Ehre und Liebe. Tellheim, der sich vor dem Krieg mit Minna verlobt hat, weigerte sich, empfindliche Kontributionszahlungen von seinen unterlegenen Gegnern einzutreiben, und zog es vor, diese aus eigener Tasche zu bezahlen. Seine Vorgesetzten witterten Korruption und entließen ihn unehrenhaft aus der Armee. Pleite und ruhmentladen sieht er sich nicht länger als würdigen Heiratskandidaten für Minna und entsagt ihr seine Liebe. Minna, die ihn „um seiner selbst willen“ liebt, bedeuten Ruhm und Geld nichts, und so versucht sie, ihn aus seiner inneren Migration zu befreien.
In diesem Rahmen vollzieht sich großartige Schauspielkunst: Herrlich anzuschauen sind die Momente, in denen das empfindliche Ehrbewusstsein Tellheims auf inkompatible Ehrenkodexe anderer trifft und dadurch als das entlarvt wird, was es aus der heutigen Sicht einer von formellen Standesdünkeln befreiten Gesellschaft ist: kindlich anmutende Dickköpfigkeit oder – was noch schlimmer ist – moralische Eitelkeit. Ganz groß sind auch die Szenen, in denen die Minna die ganze Bandbreite weiblicher Verführungskunst aufbietet, um den stoischen Herrn Major wieder für sich zu gewinnen: Sie ziert sich, sie lockt, umgarnt, weist zurück und kokettiert. Eine Katze, die mit ihrer Beute spielt, derweil dem Major für seine Verzweiflung die Worte fehlen und er umso heftiger körperlich reagiert.
Überhaupt tragen die weiblichen Rollen zu einer spielerischen Leichtigkeit bei, die vor allem dem starken Kontrast zum angestrengten Soldatenhabitus der Männer zu verdanken ist. Wenn Franziska (Alina Wolff), das kluge und selbstbewusste Dienstmädchen der Minna, die eilfertigen Salutationen des Hals über Kopf in sie verliebten Werners nachäfft und ihm dadurch die Schamesröte ins Gesicht treibt, dekonstruiert sie das militärische Machogehabe als letzte Zuflucht des unsicheren Mannes, dessen Unterlegenheit sich in abfälligen Kosenamen wie „Frauenzimmerchen“ oder „Kammerkätzchen“ äußert. Damit markierte Lessing den Beginn einer neuen Tradition, die den deutschen Offizier offen auf der Bühne verspottete. Dass die Frauen bisweilen übererotisiert daherkommen (Minna im Negligee – Minna im roten Kleid – Minna beim sinnlichen Abendessen), liest sich vor dem historischen Hintergrund eher als Hinweis früher Emanzipation und damit als Zeichen von Stärke.
Die größten Stärken der Inszenierung offenbaren sich jedoch im Komödiantischen: Der erste Schlagabtausch des von Klaus-Michael Nix wunderbar schlitzohrig gespielten Wirtes mit den beiden Frauen zählt zu den besten Szenen des Stückes. Einen großen Anteil daran hat auch die Sprache, die bis auf kleinere Änderungen unverändert geblieben ist und von den Schauspielern so umfassend zur rhetorischen und tonalen Klimax ausgereizt wird, dass man meint, vom Zehn-Meter-Brett in die Pointen zu springen. Ein Beispiel gefällig? Auf die Frage Franziskas, ob denn ein vormaliger Bediensteter des Majors mit dessen Garderobe durchgebrannt sei, antwortet der grobschlächtige und hundsloyale Diener des Mayors, Just (Peter Singer): „Das kann man nun eben nicht sagen; sondern als wir von Nürnberg weggingen, ist er uns nur nicht damit nachgekommen.“ Wen die geschriebene Variante schon zu einem Schmunzeln animiert, der sollte das gesprochene Pendant keinesfalls verpassen.
Weitere Aufführungen: Freitag, 28. Juni, 20 Uhr; Dienstag, 2. Juli, 20 Uhr; Freitag, 5. Juli, 20 Uhr; Sonntag, 7. Juli, 19:30 Uhr; Mittwoch, 10. Juli, 20 Uhr; Samstag, 13. Juli, 19:30 Uhr. Karten unter www.theater-trier.de.