Kennen Sie… das Sonnenblumenhaus?

Seit einigen Wochen bleiben in der Nagelstraße immer wieder Menschen stehen und beugen sich nach hinten, um das Haus mit dem hohen Giebel gut und vor allem ganz in den Blick zu bekommen. Das schmale Jugendstilhaus mit dem frischen farbenfrohen Anstrich und der riesigen Sonnenblume ist mitten im Winter neu erblüht. Wo einst das „Unausprechliche“ feilgeboten wurde, soll in wenigen Monaten die Genussgesellschaft einziehen.

TRIER. Der Jugendstil hat in Trier nicht viele architektonische Spuren hinterlassen. Noch weniger ist er in der Moselstadt als eine Bauströmung bekannt, die Farbe als wesentliches Gestaltungselement nutzt. Die wenigen Fassaden der Wohnhäuser aus der Zeit des frühen 20. Jahrhunderts mit Jugendstildetails sind monochrom oder farblich schlicht gehalten und auch in dieser Form renoviert worden. Mut zur Farbe hingegen hat der Eigentümer der Nagelstraße 31 bewiesen – mit Unterstützung des städtischen Denkmalpflegeamts sowie des Landesamts für Denkmalpflege.

Das dreigeschossige Haus wurde 1905 von dem Architekten H. Meppert entworfen und vom Bauunternehmer Stefan Weber & Söhne errichtet. Von Beginn an ist im Erdgeschoss ein Ladenlokal geplant gewesen. In den beiden oberen Etagen befinden sich Wohnräume. Zwischen den späthistorischen Bauten muss das Haus vor 105 Jahren ähnlich viel Aufmerksamkeit erfahren haben, wie heute nach der Renovierung. Hochgestreckt überragt es mit seinem Zwerchhausgiebel die Nachbarhäuser. Das dominierende Element ist die darauf aufgebrachte Sonnenblume mit ihren fünf Blüten. Ganze drei Meter hoch und zweieinhalb Meter breit ist das florale Motiv des Giebels. Sonnengelb sind die Blütenblätter der zentralen, ganz geöffneten Blüte und der der flankierenden, teilweise noch geschlossenen kleineren Blüten am Hauptstiel. Die Pflanzenblätter sind in einem natürlichen gedeckten Grün gehalten und auch die Kerne haben ihre natürliche Farbe, sind also sehr dunkel.

Wie alle anderen Elemente der Fassade ist die Blume direkt an der Fassade modelliert worden und somit einzigartig. Üblich war es bei Putzfassaden des Jugendstils, fertige Teile anzukleben. Gerade die Architekten der neuen Bewegung um 1900 hatten es sich zur Aufgabe gemacht, abseits des Historismus Formen zu entwickeln, die sowohl einen neuen Stil bilden als auch im Kunsthandwerk zum Design für alle Schichten werden sollten. Dass dies weder im „Arts and Craft Movement“ im englischsprachigen Raum noch in der Kunstgewerbebewegung in Deutschland funktionierte, lag sicher nicht nur an den gehobenen Preisen und der damit verbundenen Exklusivität der Objekte. Die Bauherren mussten das Neue, Innovative und Moderne auch wollen.

Genau diese Kombination ist der Grundgedanke der Renovierung des erst seit zwei Jahren unter Denkmalschutz stehenden Gebäudes in der Nagelstraße, die im Sommer 2010 startete. Der in das Haus verliebte Eigentümer Michael Becker stellt so viel Authentizität wieder her wie möglich, möchte darunter aber eine zeitgemäße Nutzung nicht leiden lassen. „Das, was wir erhalten können, wird auch erhalten und teilweise sogar wieder nach den alten Befunden hergestellt wie zum Beispiel die Stuckelemente oder der Terrazzoboden im Inneren“, so Becker. „Zusammen mit der Denkmalpflege haben wir uns entschieden, das letzte Schaufenster nicht zu erhalten, sondern an dieser Stelle etwas Modernes zu gestalten.“

Wo bis Mitte 2008 noch BHs, Wäsche und Strümpfe von Miederwaren Fey auslagen, ist nun ein komplett neuer Eingangsbereich entstanden, der die zentral aufgebaute dreigliedrige Fassade nach unten hin symmetrisch weiterführt. Schon zur Bauzeit war das Erdgeschoss dreigeteilt. In der Mitte befand sich damals das Schaufenster, links der Eingang in die Privatwohnungen der Obergeschosse und rechts davon der Eingang in das Ladenlokal. Die erste Eigentümerin, die aus Frankreich stammende Baronesse Elisabeth du Sartz de Vigneulle, fertigte und verkaufte hier in ihrem eigenen Atelier – wie ihre Nachfolgerin – „das Unaussprechliche“, wie man damals Wäsche, Strumpfhalter oder Knöpfe für die untersten Schichten der „feinen Damengarderobe“ nannte. Die Erdgeschossgliederung geschah durch Quinter Säulen aus Gusseisen, welche die Glastüren von dem Schaufenster trennten.

Das Schaufenster von Miederwaren Fey aus den 50er-Jahren mit dem asymmetrischen Eingang auf der linken Seite nahm keinen Bezug zum historischen Gebäude und konnte so durch die moderne Neugestaltung mit Stahlträgern und einer Tür aus dem Baujahr 1905, die exakt an diese Stelle passt, mit dem Einverständnis der Denkmalpflege ersetzt werden. „Da die Gusssäulen nicht mehr vorhanden waren, haben wir der modernen Interpretation gerne zugestimmt“, berichtet Peter Alhelm, Denkmalpfleger der Stadt Trier. „Wichtig war es uns, dass das Gebäude nicht historisierend wirkt. So haben wir das zurückgebaut, was die Fassade gestört hat.“ Der Miederladen Fey aus dem Jahr 1953 ist jedoch als solcher samt Tür, Schaufenster und Innenausstattung auch schon wieder als Denkmal erhaltenswert und komplett in den Roscheider Hof in Konz überführt worden – als Teil der Ladengasse des 20. Jahrhunderts.

Ab Mitte 2011 residiert hier die Genussgesellschaft

Nicht nur die Holztür, die den zentralen Eingang in die Genussgesellschaft bildet, die ab Mitte 2011 eröffnet wird, ist Hingucker in der Fußgängerzone zwischen Metzgerei und Eisdiele. Auch der farbige und überbordende Schmuck der beiden Obergeschosse ließ sogar die Gerüstbauer, Anstreicher und langjährigen Anwohner staunen. In der ersten Etage werden die drei mittig angeordneten Fenster von Gesichtern und Gehängen flankiert, unter der Fensterreihe sorgt ein Blumenfries für die Betonung der eigentlich für den Jugendstil nicht typischen Mittelachse. Die zweite Etage wird von zwei Kastanienbäumen umrankt, deren braune Wurzeln auf dem Gesims liegen und deren Äste die zentrale Gesichtsmaske mit Blättern, Kastanien und Kastanienblüten umspielen.

Der Trierer Restaurator Thomas Lutgen ermittelte die ursprüngliche Farbgebung der Fassade anhand von Wandproben, die der heutigen Fassung entsprechen. Die Fassade ist nahezu komplett im bauzeitlichen Zustand erhalten. Neben kleineren Ausbesserungsarbeiten ist sie nur einmal komplett neu gestrichen worden, in einer fast einfarbig wirkenden grau-beige-weißen Fassung, welche nur wenige Blattgoldelemente dekorierten. Jahrzehntelang blieb diese unscheinbare Fassade unbeachtet. Die jetzige Farbfassung macht aus dem Geschäfts- und Wohnhaus wieder ein neu zu entdeckendes Objekt. Ein neuer Stil, Jugendstil im 21. Jahrhundert.

„Kennen Sie Trier?“ – auf einen Blick:

Kennen Sie Trier? auf einer größeren Karte anzeigen

Print Friendly, PDF & Email

von

Schreiben Sie einen Leserbrief

Angabe Ihres tatsächlichen Namens erforderlich, sonst wird der Beitrag nicht veröffentlicht!

Bitte beachten Sie unsere Kommentarrichtlinien!

Noch Zeichen.

Bitte erst die Rechenaufgabe lösen! * Time limit is exhausted. Please reload the CAPTCHA.